Wie entsteht das Verzeihen können und warum braucht es Zeit, um zu reifen?
Es gibt Wunden, die brauchen lange, um zu heilen. Etwa, weil einem die Verletzung plötzlich und unerwartet zugefügt wurde. Oder weil die Wunde über einen längeren Zeitraum immer und immer wieder geöffnet wurde. Es kann auch sein, dass die Person, die uns verletzt hat, die unsere Liebe und unser Vertrauen missbraucht hat, eine besondere Stellung in unserem Leben hatte. Es braucht seine Zeit. Manchmal ist es leicht, manchmal schwer.
Es gibt Menschen, die sind relativ schnell in der Lage, ein Thema zu verarbeiten und zu verzeihen. Sie beschließen dann, dass die Situation ausgestanden sei und lassen die andere Person wieder in ihr Leben. Dann gibt es Menschen, die schaffen es über Jahre hinweg nicht, Frieden zu schließen und zu verzeihen. Und bei anderen wiederum gibt es nach gewisser Zeit erste Annäherungsversuche, Begegnungen des Wohlwollens, jeder gibt sich Mühe, Frieden zu schließen. Dennoch spürt man, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Oder zumindest wird es für einen weiteren Zeitraum erst einmal bei neutralen Annäherungen bleiben.
In diesem Sommer wurde ich Zeugin einer unverhofften Vergebungssituation in einem kleinen, italienischen Bergdorf. Die Geschichte hinter der Vergebung hatte sich bereits vor Jahren zugetragen. Zwei Brüder arbeiteten jahrelang Seite an Seite in der Immobilienbranche. Sie bauten Häuser für Einheimische, aber auch für Touristen, die nach einer Anlage im Ausland suchten. Die Arbeit war unter den Brüdern aufgeteilt. Der eine war dafür zuständig, den Bau zu beaufsichtigen, die Gewerke zu überwachen und quasi „vor Ort“ zu sein. Der andere Bruder war der Investor, der für den Bau das benötigte Geld bereitstellte, die Grundstücke, Architekten und Materialien aussuchte. Nach vielen Jahren kam ans Licht, dass der eine Bruder den anderen massiv betrogen hatte. Es ging um viel Geld, das bei Seite geschafft wurde. Während der eine Bruder nun mittlerweile jeden Euro im Portemonnaie mehrfach umdrehen musste, hatte sich der andere eine solide Lebensgrundlage für sich und seine Familie erschaffen. Die Situation eskalierte. Viele Jahre sprachen die Brüder kein Wort miteinander, die Familien (alle lebten nach wie vor im gleichen Bergdorf, nur wenige Straßen voneinander getrennt) ließen kein gutes Haar aneinander. Der betrogene Bruder zeterte und philosophierte über Jahre hinweg, hinterfragte sein Schicksal, warum hatte man ihm das angetan? Er schimpfte und fluchte, versank in Trauer und Ohnmacht zugleich. Das Leben in der betrogenen Familie erholte sich von dem Schrecken nur langsam. Und so war es umso erstaunlicher, als die beiden Brüder nach den vielen Jahren der „Feindschaft“ doch wieder gemeinsam im gleichen Raume standen, sich die Hand gaben, und einige Worte über den Gesundheitszustand der „Mamma“ wechseln konnten. Es gab keine Aussprache. Es gab keine Vergebung, keine Reue des einen. Es gab viel mehr ein stillschweigendes Abkommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Ich hinterfragte die Situation, fragte nach eben jener Aussprache, von der ich dachte, sie müsse einer solchen Zusammenkunft vorausgehen. Ich fragte nach der Vergebung. Nein, mit Vergebung habe das zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts zu tun. Und so erleichtert wir alle darüber waren, dass die Brüder sich wieder zusammen im gleichen Raume aufhalten konnten, so fragte ich mich weiterhin:
Ist die Situation tatsächlich ausgestanden? Kann es so einfach sein oder fehlt da nicht etwas?
Meine Vorstellung war, dass es zum Streit eines Gegenstückes bedarf, um eine Balance zwischen der Tat und der Zusammenkunft der beiden herstellen zu können.
Aber braucht es dieses Zwischenstück?
Für viele Menschen, die verletzt wurden, ist ein erster wichtiger Schritt zum Verzeihen eine aufrichtige Entschuldigung des Gegenübers. Das verletzende Verhalten wird so vom anderen bedauert. Auch im Strafverfahren ist die „Einsicht und Reue“ ein wichtiger Schritt, um dem Gericht und ggf. dem Opfer zu signalisieren, ein Fehlverhalten begangen zu haben. Je nach Schwere der Tat kann sich die Entschuldigung vor Gericht strafmildernd auswirken.
Es gibt aber auch Menschen, die die Fähigkeit besitzen, ohne eine solche Entschuldigung zu vergeben. Der Autor Anselm Grün erklärt dies mit einer Distanzierung zu den eigenen Emotionen:
Der Verletzte beschließt (rational), dass das Vergeben für die eigene Person langfristig besser ist, als in Emotionen wie Trauer, Wut oder Enttäuschung zu leben. Im biblischen Sinne bedeutet es außerdem, weder nachtragend zu sein, noch Wiedergutmachung zu verlangen.
Marc Aurel sagte dazu:
„(..) mich leicht versöhnlich zu zeigen, jeden Augenblick zum Verzeihen bereit zu sein.“ (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Erstes Buch, 7.).
Welche Gefühle möchten wir in unserem Leben?
Wenn wir uns fragen, mit welchen Gefühlen wir gerne leben möchten, lautet die Antwort sicher: Glück, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit. Sorglosigkeit; nicht hingegen Wut, Trauer, Angst, Rache. Wenn dem so ist, dann ist es naheliegend, dass die bewusste Entscheidung zur Vergebung getroffen werden muss. Denn unsere Einstellung entscheidet, welche Emotionen in unserem Leben überwiegen. Entscheiden wir uns für Vergebung, dann entscheiden wir uns dafür, an dem erlittenen Unrecht nicht länger festhalten zu wollen.
Vergeben bedeutet übrigens nicht, sich mit dem Gegenüber versöhnen zu müssen. Das Versöhnen kann auf die Vergebung folgen. Das bedeutet, man geht einen Teil des Lebens wieder gemeinsam – in welchem Ausmaß auch immer. Vergebung funktioniert jedoch auch ohne Versöhnung.
Um die vorangegangene Frage also zu beantworten: Nein, ein Zwischenstück wie „Aussprache“ „Entschuldigung“ oder „Reue“ ist nicht in jedem Falle erforderlich, um Frieden zu schließen. Unser Kopf entscheidet über die Färbung unserer Seele. Unsere Gedanken bestimmen unser Schicksal.
Je nach Schwere der Verletzung braucht es verschiedene Gedanken und Zeit, um hierhin zu gelangen. Es ist nicht leicht, diese Erkenntnis auch in die Realität umzusetzen, denn oft spielen uns unsere Gedanken einen Streich, indem sie flüstern: „Soll er sich doch entschuldigen!“ „Ich komme nicht angekrochen.“ „Sie hat mich zu sehr verletzt, das kann ich nicht vergeben.“ „Meine Ignoranz ist ihre Bestrafung!“ etc.
Ich kann diese Gedanken verstehen. Die Frage, die wir uns hier stellen könnten lautet: Welche Farbe hat meine Seele, ließe ich diese Gedanken zu?
Welche Farbe kannst du Deiner Seele geben?
L O V E, V I D A.