Der Drang, sich einzumischen oder seine Meinung abzugeben, ist heutzutage größer denn je. Überall bietet sich die Möglichkeit, zu kommentieren und seine eigene Sicht der Dinge kundzutun. Aber ist das ständige „Kommentieren“ dem offline-Leben wirklich dienlich? Was bezwecken wir damit?

Über Missverständnisse zwischen Eltern und Kindern und schnippischen Kollegen.
Montagmorgen, irgendwo in Berlin. In einem „Open-Space“ – Büro mit Hängematten im Flur und einer Popcornmaschine in der Küche. Zwei Kolleginnen stehen bei ihrem morgendlichen, infused Chai-Latte aus ungesüßter Mandelmilch beisammen und bereiten sich seelisch auf das „All-Hands“ Wochen-Warm-up vor. Die Sonne scheint durch die riesigen Fenster des alten Fabrikgebäudes. Es wird eine kurze Woche. Die Kar-Woche. Der Chai-Latte aus ungesüßter Mandelmilch liegt warm in der Hand, der Moment fühlt sich fast wie Sommer an. Wäre da nicht dieses All-Hands-Ding, bei dem es, dank einer anderen Kollegin, immer wieder zu skurrilen Momenten kommt.
„Ich glaube, ich muss ihr mal sagen, dass das so nicht weitergeht.“
„Was willst du ihr denn genau sagen?“
„Na, dass ihr Verhalten den Kollegen sauer aufstößt. Ihre schnippischen Kommentare werden immer mehr. Sie sitzt immer häufiger mit verschränkten Armen im Meeting. Die Leute reden über sie. Ich finde es schade, dass jeder hinter dem Rücken spricht, aber keiner den Mut hat, mit ihr ein Gespräch unter vier Augen zu führen.“
So oder so ähnlich kann man sich den Beginn einer Situation à la: „Du, ich will mich eigentlich nicht einmischen, aber mir ist aufgefallen, dass …“, aussehen. Ein Klassiker, wer kennt ihn nicht?
Aber nicht nur im Berufsleben stellen wir uns die Frage, ob man DAZU nicht mal was sagen müsste. Auch die Familie ist eine Institution, die vor nicht wohlwollend gemeinten Kommentaren und Einmischaktionen befreit bleibt.
Ein Klassiker im Familienleben könnte so ablaufen:
„Sag mal, findest du nicht auch, dass Carlos zu unseren Familientreffen immer wie der letzte Lump gekleidet kommt? Sollte ihm das nicht mal jemand sagen? Ist doch etwas respektlos, wenn er in Trainingsklamotten bei Oma am Tisch sitzt.“
Oder:
„Lindas Freund interessiert sich nicht für uns. Immer sitzt er mit seinem Smartphone am Tisch. Vielleicht kann man ihr mal sagen, dass das unhöflich ist.“
Problem erkannt? Man will sich ja nicht einmischen, aber …weitergehen kann es so doch auch nicht. Oder doch? Das kann man so oder so sehen und es kommt natürlich, wie immer im Leben, auf den konkreten Sachverhalt an. Denn das mit dem „ich muss dazu mal was sagen“, das ist so eine Sache!
Woher kommt der Drang, zu kommentieren, einzugreifen, zu ermahnen?
Machen wir zunächst einen Schritt zurück und schauen wir uns das Thema „Meinungsfreiheit“ von der Basis an. Die Meinungsfreiheit ist etwas Wunderbares, nicht umsonst hat Gandhi Zeit seines Lebens betont, dass eine Stimme dazu da ist, um sie zu erheben. Auch unser Grundgesetz hat die Freiheit, sich eine Meinung zu bilden und diese auch zu äußern, verfassungsrechtlich normiert. Die Freiheit der Meinung ist eines der höchsten Rechtsgüter, die wir haben. Sie zu schützen, zu achten und zu pflegen ist nicht nur Aufgabe des Gesetzgebers oder unserer Verfassungsorgane, sondern auch der Gesellschaft. Zugegeben, die Einordnung der Meinungsfreiheit in einen rechtlichen und politischen Rahmen ist doch noch einmal etwas anderes, als das hier besprochene Thema. Denn hier geht es um enge soziale Gefüge. Freunde, Familie, Arbeitskollegen. Nachbarn. Hier ist ein anderes Fingerspitzengefühl gefragt. Mit einem Verweis auf unser Grundgesetz kann Tante Erna nicht durchkommen, wenn sie zum 100mal die Familienplanung von Cousine Emma kritisiert. Der innere Drang zu kommentieren, zu kritisieren, zu „meinen“ ist trotzdem vergleichbar. Bezogen auf unsere sozialen Gefüge lautet die Frage: wann, wie laut und zu welcher Gelegenheit?
Mir selbst ist es bis vor kurzem äußerst schwer gefallen, mich nicht einzumischen. Als große Schwester von vier jüngeren Schwestern gibt es so vieles, bei dem man meint, lieber einen Satz mehr als zu wenig sagen, könne nicht schaden. Nicht, dass noch was passiert. Nicht, dass sich Dinge in die falsche Richtung entwickeln. Nicht, dass der andere einen Schaden erleidet!
Mittlerweile habe ich erkannt, dass man viele Kommentare nur deswegen abgibt, weil man sich selbst vor unguten Gefühlen oder unschönen Situationen schützen möchte, die zumindest mittelbar durch das Verhalten eines anderen entstehen könnten. Man selbst traut der Situation nicht. Man selbst möchte zu sich sagen können: „Siehst du, ich habe dich gewarnt!“ Man selbst befürchtet eigene Nachteile, weil die Person dieses oder jenes tut. Es geht also in Wirklichkeit nicht um jemand anderen.
Beim Kommentieren und Zurechtweisen geht es in 99% der Fälle nur um einen selbst. Und sei es, dass man hinterher sagen kann: „Ich hatte die Courage, die Situation anzusprechen.“
Wirklich selbstlos ist das Kommentieren in den seltensten Fällen. Wir erhoffen uns dadurch einen eigenen Vorteil zu erlangen oder einen Schaden von uns selbst abzuwenden.
Nehmen wir eines der oberen Beispiele. Lindas Freund sitzt immer mit dem Smartphone bei Tisch. Gehen wir davon aus, dass der junge Mann das Erwachsenenalter bereits erreicht hat (es geht hier also nicht um die Diskussion über antiautoritäre Erziehung von Kleinkindern, Kindern oder Jugendlichen, es geht hier um ein Phänomen unter Erwachsenen) und sehr wohl weiß, was sich gehört und was nicht. Trotzdem sitzt er mit dem Smartphone bei Tisch. Und jetzt? Fühlen sich alle anderen ignoriert? Respektlos behandelt? Wenn ja, dann wären das Gefühle, die in den anderen Personen selbst entstehen. Vielleicht reicht es ja, mit gutem Beispiel voran zu gehen und selbst konsequent ohne Smartphone bei Tisch zu sitzen. Vielleicht dauert es etwas, bis Lindas Freund checkt, was los ist. Das mag sein. Aber was wäre die Alternative? Sein Verhalten zu rügen, damit er sich zurechtgewiesen, vielleicht sogar gedemütigt fühlt?
Wenn wir kommentieren, vergessen wir leider viel zu oft, dass:
- Erfahrungen, auch negative Erlebnisse oder Umwege, zur Entwicklung der Persönlichkeit und zum Erfahrungsschatz des Lebens dazu gehören. Jemand anderen um seine Erfahrungen zu bringen, weil man diese negativ kommentiert, ist hochgradig egoistisch;
- man eh nicht auf alles und jeden Einfluss nehmen kann. Das Leben entscheidet sich, wie es will. Viele Kommentare sind schlicht überflüssig und hinterlassen beim Empfänger einen negativen Beigeschmack;
- wir meinen, unsere Auffassung sei das Nonplusultra. Unsere Auffassung sei richtig. Vielleicht ist sie das für uns, aber nicht für den anderen und dessen Leben;
- wir uns selbst und unsere Meinung nicht wichtiger nehmen sollten, als den Lebensweg eines anderen.
Insbesondere der letzte Punkt scheint mir elementar wichtig. Wenn jemand einen Rat braucht, eine Einschätzung, einen anderen Blickwinkel oder wenn jemand sich einfach über ein Thema austauschen möchte, dann wird derjenige schon von sich aus nachfragen.
Kurz gefasst: Wenn jemand etwas hören will, dann wird er schon fragen.
In der Regel möchte niemand ungefragt behelligt werden. Zu oft verwirrt das nur, verunsichert, wirkt herablassend oder egoistisch.
Ja, auch mir fällt es noch immer schwer, den Dingen kommentarlos ihren Lauf zu lassen. Wenn eine meiner Schwestern sich eigentlich vorgenommen hat, sich auf den Job zu konzentrieren, dann aber in drei Monaten drei wilde, aufwühlende, nervenraubende Affären an Land zieht, die alles tun, außer ihr Kraft für die Karriere zu schenken, dann liegt mir natürlich ein saftiger Kommentar auf der Zunge. Oft schaffe ich es, nichts zu sagen. Hin und wieder platzt es aber doch noch ungefragt aus mir heraus. Weil ich mich ärgere. Weil ich denke, dass von meinem Statement wenigstens ein guter Satz bei ihr ankommt, der ihr hilft. Aber helfen, wobei? Das ist nicht mein Leben. Das sind nicht meine Affären. Ich kann meine Schwester auf ihrem Lebensweg nur begleiten. Wenn es mir persönlich zu viel wird, dann steht es mir auch zu, mich zu distanzieren. Wenn sie mich nach meiner Meinung fragt, dann steht es mir zu, ihr zu antworten. Wenn sie Unterstützung braucht, bin ich da. Ansonsten habe ich keine Recht zur Einflussnahme. Ansonsten ist meine Meinung, sind meine Ängste und Sorgen nicht für wichtiger zu nehmen, als ihre Erlebnisse. Ihre Erfahrungen. Seien sie noch so aufreibend, kraftraubend oder wundervoll.
Dinge loszulassen, unkommentiert zu lassen und trotzdem für diejenigen, die mich brauchen, da zu sein, das ist mein persönlicher Anspruch an mich selbst. Ich möchte offen sein und Interesse an den Menschen in meinem Leben zeigen. Man kann auch proaktiv und liebevoll Aufmerksamkeit spenden, ohne sich einzumischen und den eigenen Kommentar in den Vordergrund zu stellen.
Sich weniger einzumischen bedeutet nicht, die Menschen zu ignorieren!
Es bedeutet, selbstloser und trotzdem aufmerksam zu sein. Trotzdem zu fragen, wie es an der Uni läuft, mit dem Partner, mit der Wohnungssuche.
Auch wenn man beschlossen hat, sich weniger einzumischen, kann man trotzdem nachfragen und Interesse zeigen. Man schluckt nur den letzten Teil, das Kommentieren, an das wir uns so gewöhnt haben, herunter.
Ich glaube, viele Menschen übersehen diesen letzten Punkt. Sie denken, wenn sie beschlossen haben, sich nicht mehr einzumischen, sei ihnen eine Kontaktaufnahme verwehrt. Oder sie gehen dann auf Distanz, ganz nach dem Motto: „Du willst nicht, dass ich mich einmische? Gut, dann melde du dich, wenn du mich hören willst.“
Insbesondere im Verhältnis zwischen jungen Erwachsenen und ihren Eltern ist mir dieses Phänomen schon häufiger aufgefallen. Die Eltern melden sich bei ihren Kindern nicht mehr oder nicht regelmäßig, weil sie sich ja „nicht einmischen“ wollen. Welch ein Missverständnis!
Ein Schwenk zurück ins Berufsleben. Hier verbietet sich jede Form der Kommentierung, es sei denn, es handelt sich um ein offizielles Feedback-Gespräch, bei dem es gerade darauf ankommt, Stärken und Schwächen offen anzusprechen. Ansonsten steht es meiner Meinung nach niemandem zu, das Verhalten von Kollegen diesen gegenüber ungefragt anzusprechen.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich bin auf eure Erfahrungen und Sichtweisen gespannt, lasst gerne einen Kommentar da.
Love, V I D A.
Check:
Wenn auch du dir vornehmen möchtest, weniger zu kommentieren und dich einzumischen, hier ein paar Inspirationen:
- stelle Fragen, ohne zu bewerten. Je mehr Fragen du einer Person stellst, umso mehr Interesse zeigst du und lernst die Beweggründe kennen;
- schlucke den letzten Drang, zu kommentieren herunter, es sei denn, die Person fragt dich nach deiner Meinung;
- denke daran: wer eine Meinung wirklich hören will, der wird schon danach fragen;
- führe ein Tagebuch, wenn der Drang zur Meinungsäußerung zu stark wird;
- auf der Arbeit ist weniger immer mehr! Bleibe professionell. Meinungsaustausch gehört nicht in die Teeküche, sondern in offizielle Feedbackgespräche;
- Eltern sollten sich gerade dann auch weiterhin bei ihren Kindern melden, auch wenn sie beschlossen haben, sich nicht einzumischen.