Wann aufgeben? Wann durchziehen?
Muss man durch Schmerzen einfach mal hindurch, oder darf man ihnen aus dem Weg gehen? Warum könnte es wichtig sein, durchzuhalten und nicht abzubrechen? Was macht das mit uns, wenn wir die Pobacken zusammen kneifen und entgegen unserer Lust und der inneren Stimme, einfach mal durchziehen?
„Ich komme nach Hause. Ich schaffe das Semester nicht.“
„Wie kommst du darauf, du würdest es nicht schaffen?“
„Es geht mir nicht gut. Ich vermisse euch alle, mein Rücken tut noch immer weh. Ich bin hier so alleine.“
„Schatz, bitte. Du bist erst seit zwei Wochen in Texas. Drei Tage davon hast du krank im Bett verbracht. Du konntest noch gar keinen Anschluss finden. Gib dem Unterfangen eine echte Chance.“
„Eher nicht. Ich habe schon gepackt. Ich bin quasi auf dem Weg nach Hause. Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt. Ich habe jahrelang von einem Auslandsaufenthalt geträumt. Aber irgendwie … anders. Ich fühle mich auch in der Unterkunft nicht wohl, die Leute sind komisch.“
Es hatte keinen Sinn. Meine Schwester war entschlossen, ihr hart erspartes Auslandssemester nach nur zwei Wochen Aufenthalt an der Uni in Texas abzubrechen. Ich sagte noch etwas wie: „Ok, ich hoffe du bereust es nicht. Sag Bescheid wenn du am Flughafen bist. Guten Flug“, und legte auf. Traurig war ich. Und auch sauer. Ich hatte mir das wirklich für sie gewünscht. Vermutlich auch deshalb, weil ich diese Möglichkeit damals nicht hatte. Ich war einfach so überzeugt, dass die anstehenden fünf Monate ihr Leben um viele Erfahrungen bereichert hätten. Es hätte ihren Lebenslauf aufgewertet. Mit perfekten Englischkenntnissen wäre sie nach Hause gekommen. Und ich weiß, dass sie das auch alles wusste und bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hatte. Dennoch überwog ihr Heimweh. Mehr war es meiner Meinung nach nicht. Nicht sonderlich empathisch, ich weiß. Aber für Empathie bin ich oft zu kopfig.
An dieser Stelle sei auch erwähnt, ich bin kein Freund von abgebrochenen Projekten. Dabei hätte ich selbst vor rund zehn Jahren eine ähnliche, nur folgenschwerere Entscheidung getroffen. Ich war damals im 5. Semester meines Jurastudiums. Kurz vor dem Schwerpunktstudium. Ich hatte eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bei einer renommierten Journalistenakademie. Ein einmaliges Angebot. Ein Traum. Ich schwankte zwischen einem Leben als Journalistin oder als Juristin. Es war eine rationale Entscheidung, keine Emotionale. Ich hatte mehr als die Hälfte meines Jura-Studiums bereits gemeistert, bei Journalismus hätte ich wieder bei null angefangen.
Mein Ehemann (auch damals schon an meiner Seite und fünf Jahre älter als ich. Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich bin!) stellte die Fragen, auf die es für mich persönlich ankam: Wo steigt man gehaltstechnisch als Volljurist in den Job ein, wo als Journalist? Welche Karrierewege eröffnen sich einerseits, welche andererseits? Er hat mir damals aufgezeigt was es heißt, nicht aufzugeben, nur weil das Leben mir eine andere Option eröffnet hat. Er war streng und mitfühlend zugleich und wusste, wie wichtig es für mich war, durch das Gefühl des „ich kann Jura grad einfach nicht mehr ertragen“ hindurchzugehen. Über den Gefühlen drüber zu stehen.
Letztlich habe ich Jura nicht abgebrochen. Was begonnen wurde, wurde auch zu Ende gebracht. Die rationalen Gründe haben überwogen.
Natürlich hatte mein Mann Recht. Aber mit Mitte 20 wollte ich „unsere“ Entscheidung gerne bestätigen lassen. Von einer Person, mit der ich nicht das Bett teilte und die auch sonst mit mir in keinem persönlichen Verhältnis stand. Einige Zeit nachdem unsere Entscheidung bereits gefallen war, waren wir bei einem Seminar des Erfolgs- und Motivationstrainer Frank Wilde. Die Familie meines Mannes hat mich in die Welt des „Mindsettings“, der Motivationstrainer und des Positiven Denkens eingeführt. Eine Tatsache, für die ich jeden Tag nur von Herzen dankbar sein kann, aber das ist ein anderes Thema.
Jedenfalls stellte ich Frank Wilde damals generell noch einmal die Frage, wann es legitim ist, ein Unterfangen abzubrechen.
„Gar nicht“, war seine Antwort.
Punkt.
Ich hakte nochmal nach:
„Aber Wege können sich doch ändern. Lebensmodelle, Meinungen, Ideen. Vorlieben. Dann soll man stur an seinem Ziel festhalten?“
„Ja. Das, was du angefangen hast, bringst du erst einmal zu Ende. Wenn sich das Projekt in eine Etappe einteilen lässt, dann bringst du es wenigstens bis zu diesem Etappenziel zu Ende. Wenn du einen Plan B hast, starte nach dem Etappenziel mit Plan B. Hast du keinen Plan B, dann kneifst du die Arschbacken zusammen und ziehst durch!“
Mein Mann sah mich schräg von der Seite an, so nach dem Motto: „Genau das habe ich dir vor Wochen schon gesagt!“ Ich nickte ihm zu, à la „Jaja, ist ja gut. Sorry dass ich gefragt habe.“ 😉
In meinem Fall bedeutete das, ich musste und wollte wenigstens das erste juristische Staatsexamen absolvieren. Mit dem ersten in der Tasche wollte ich es dann nochmal im Journalismus probieren, letztlich habe ich sogar das zweite Staatsexamen bewältigt und bin mehr als froh darüber.
Im Falle meiner Schwester hätte das Etappenziel lauten können: Bring wenigstens einen sinnvollen Zeitraum in Texas über die Bühne. Zum einen hätte sie dann einen echten „Auslandsaufenthalt“ in ihrem Lebenslauf verankern können; zum anderen hätten sich vielleicht doch noch schöne Momente ergeben, solche, auf die sie gehofft hatte. Und das bereits investierte Geld wäre nicht völlig für die Katz gewesen.
Über das Thema „abbrechen oder durchziehen“ lässt sich freilich streiten. Es gibt die einen, die der Meinung sind, dass man ein Vorhaben generell durchziehen sollte. Die Anfangsphase ist nie Zuckerschlecken. Nirgendwo. Dann gibt es die anderen die sagen, das eigene Wohlbefinden ist am wichtigsten. Ziele lassen sich ändern. Du musst auf dein Herz hören.
Aber vielleicht kann man das auch so sehen:
Wenn sich das Leben widerspenstig gibt und einem die kalte Schulter zeigt, ist das ein Zeichen dafür, dass sich etwas verändert. Dass wir am Leben sind. Daran wachsen wir. Gerade an den unbequemen Erfahrungen! Wer immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, geht wichtigen Erlebnissen aus dem Weg. Begegnungen, die wir noch gar nicht erahnen konnten. Es ist außerdem eine nicht unwichtige Charaktereigenschaft, Angefangenes auch zu Ende zu bringen. Wer ständig seine Ziele ändert, abbricht, nach Auswegen sucht, der kann noch so begabt sein: langfristig wird sich kein Erfolgserlebnis einstellen (warum das so wichtig ist, lest ihr im Artikel über Ziele).
Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen sind mitunter wichtige Eigenschaften erfolgreicher Menschen. Du kannst noch so begabt sein, ein Talent ohne Ende: wenn du dir keine Ziele setzt, die mit der erforderlichen Disziplin auch durchgezogen werden, dann nützt dir all dein Talent überhaupt gar nichts.
Ich persönlich bevorzuge den Weg des Durchhaltens. Allerdings sind Abkürzungen erlaubt, wenn sich unser Ziel
a) nicht mehr mit unserem Leben oder auf Dauer mit unserem Glück vereinbaren lässt und
b) ein gleichwertiger Plan B existiert.
Dann sind Abkürzungen erlaubt. Allerdings muss das „alte“ Ziel dennoch bis zu einem gewissen Etappenerfolg zu Ende gebracht werden. Wenn ich etwa bereits Trainerstunden für Tennisunterricht gebucht und bezahlt habe, dann brauche ich das auch auf. Wenn man ein weiteres Semester studieren muss, um sich im neuen Studiengang wenigstens die Scheine XYZ anrechnen lassen zu können, dann wird dieses Etappenziel verfolgt.
Ich denke, das ist ein guter Weg durch die Mitte, der in der Regel eines von selbst tut:
wir werden automatisch ein Stück weiter in Richtung Ziel gezogen, und es tut gar nicht mehr so weh.
Love, Vida.
Check:
In den USA wird das Thema unter dem Trendbegriff „Grit“ diskutiert. Es gibt ein tolles Buch dazu, das Thema der „harten Nuss“ wird liebevoll und anschaulich erklärt.
Foto: (c) Vida Jung. New York City.