Wie können wir mit Tod, Trauer und Verlust umgehen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sich Gedanken über etwas zu machen, das in erster Linie mit Emotionen zu tun hat? Sind die Lebensbereiche Tod, Trauer, Krankheit und Verlust unseren rationalen Gedanken zugänglich?
Die Frage stellt sich mir in einer Zeit, die bis eben noch geprägt war von geselligem Beisammensein. Die Weihnachtsfeiertage sind vorüber und wir haben glückliche, gesunde und gesegnete Stunden im Kreise unserer Liebsten verbracht. Wir haben gut gegessen, viel gelacht und dachten heute, am 27. Dezember widmen wir uns „zwischen den Jahren“ dem sich langsam anschleichenden Jahreswechsel. Noch schnell die schmutzigen Tischdecken waschen und die leeren Weinflaschen zum Altglas bringen, bevor die Küche für die Silvestervorbereitungen in Beschlag genommen wird.
Doch es kam anders.
Ein Anruf. Ein Mensch, gutherzig, liebevoll und rein, weilt nicht mehr unter uns. Ich verarbeite diese Neuigkeit, indem ich über den Tod nachdenke.
Die erste Begegnung mit dem Tod hatte ich, als ich 16 war. Mein Opa (der Vater, meines Vaters) ist nach langem Krebsleiden verstorben. Die Nachricht ereilte mich während einer Klassenfahrt. Ich stand am Fenster des Bungalows am Scharmützel See, den ich mir mit 7 Klassenkameradinnen teilte, als meine Mutter anrief um mir mitzuteilen, dass „Opa eingeschlafen“ sei. Ich reagierte vermutlich so, wie man mit 16 reagiert: Ich verdrückte mich auf die Toilette und vergoss meine Tränen still und leise. Auf der Beerdigung zwei Wochen später war ich überwältigt von den Emotionen meines Vaters. Er stand zusammen mit meiner Tante am Pult der Trauerkanzel und versuchte, letzte Worte über seinen Vater, unseren Opa zu sprechen. Es gelang ihm nicht. Er erstickte in einer Flut aus Tränen, es schüttelte ihn und er brachte kein Wort hervor. Meine Tante legte den Arm um ihn. Ich habe meinen Vater noch nie so erbittert weinen sehen. Mein Vater ist ein starker Mann. Er baut uns Bungalows aus Holz, mit Kamin und Panoramafenster, damit wir außerhalb Berlins ein Refugium haben, um als Familie zusammen zu kommen. Er durchbricht Wände, wechselt Autoreifen, baut Mauern aus Stein und schleppt Sandsäcke dorthin, wo sie hingehören. Das Wenigste von ihm, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe, stand in diesem Moment der Trauer vor uns. Ich saß neben meiner Schwester und die Tränen meines Vaters rührten mich unermesslich. Den Schmerz, den er verspürt haben muss, konnte ich mir damals nicht ansatzweise vorstellen.
Heute weiß ich, wie sich Trauer anfühlt.
Als meine Schwiegermutter vor 7 Jahren verstarb, war es, als hätte jemand ein Puzzlestück aus meiner Seele entnommen. Zunächst klaffte in dem nunmehr unvollständigen Puzzle meines Lebens ein Loch. Das Loch ist mittlerweile grau verblendet, aber es wird niemals strahlen oder sich harmonisch einfügen, wie die restlichen Stücke sich in mein Leben, mein Herz und meine Seele einfügen. Sobald man einen Menschen verloren hat, den man abgöttisch liebt, der eine tragende Säule im Leben ist, weiß man, was Trauer ist.
Was mich in meiner Trauer unterstützt hat?
Ein Zitat:
„Sie gehen nicht von uns. Sie gehen nur voraus.“
Ob ich an Wiedergeburt, das Paradies oder einen Ort glaube, an dem wir uns alle einmal begegnen werden, weiß ich gar nicht. Ich weiß nur, dass sich der Gedanke, dass uns jemand vorausgeht, besser anfühlt, als der Gedanke: „Sie ist für immer fort.“
Ich musste auch lernen, dass uns Leid schneller lehrt, als Freude.
Wir lernen durch Leid, auf glücklichen Momente im Leben genauer zu achten. Bewusster zu leben. Meine Schwiegermutter wurde nicht einmal 54 Jahre alt. Die Freundin, die wir zwischen Weihnachten und Neujahr verloren haben, wurde zarte 37 Jahre. Beide Todesfälle ermahnen mich, dankbar zu sein. Und ich weiß, diese Parole lesen und hören wir immer wieder, wenn es um Tod, Trauer und Krankheiten geht. „Seid dankbar“ steht über unseren Köpfen geschrieben. Der Tod ist der mahnende Zeigefinger des Lebens. Vielleicht sogar der, des Glücks.
Und gleichzeitig ist es eine Kunst, sich die Leichtigkeit des Seins nicht dadurch nehmen zu lassen, indem man zwanghaft an diesen erhobenen Zeigefinger denkt: „Ich muss den Moment jetzt genießen – schließlich sind andere Menschen krank oder tot (und können es nicht mehr tun).“ Aus Angst vor dem Tod sich zu zwingen, das Leben zu genießen – soll es so sein?
Nein, soll es nicht. Tod und Krankheit lehren uns Demut und Respekt. Ich vermute, dass sie teilweise genau dafür da sind. Wir Lebenden und Gesunden haben mehr vom Leben, wenn wir es achten. Wenn wir aufmerksam sind und den Sommerurlaub am Gardasee, das kleine Wochenenddomizil in der Uckermark oder ein geselliges Weihnachtsfest nicht an uns vorbeiziehen lassen, wie die Waggons der U5, weil wir eigentlich auf die U9 warten. Lassen wir die zurückbleibende Demut als Hintergrundrauschen unser Leben begleiten. Sie ist jetzt da. Und ich bin dankbar dafür, dass sie mich daran erinnert, wie vergänglich unsere Tage sind.
Haben wir den Tod einmal kennengelernt, ist er Teil unseres Lebens. Bei den einen dauert es, ehe die akute Trauerphase abklingt und sich in einen stillen, aber ungefährlichen Begleiter verwandelt. Bei anderen dauert es länger und wenn es ganz arg kommt, entwickeln wir Angst vor dem Tod.
Gedanken, die mir dabei geholfen haben, mit der Trauer umzugehen:
- Sie gehen nicht von uns. Sie gehen nur voraus.
- Leid entsteht dadurch, indem wir uns dagegen wehren, was ist. Die Akzeptanz, dass Leben ohne Tod nicht sein kann, mildert den Schmerz.
- Das Leben ist ein ewiger Kreislauf. Die Natur (ersetze Natur gerne durch andere Namen) lebt von Erneuerung und Verfall.
Demut. Respekt. Vergänglichkeit.
Wir sind hier und dürfen für euch die Schönheit in jedem Moment miterleben. Eines Tages werden wir einander davon berichten. Daran glaube ich ganz fest.
Love, V I D A