
Warum er uns an anderen nervt, uns selbst aber ganz gut tut und außerdem auch wichtig ist.
„Kommt Paul am Wochenende zum Angrillen?“, frage ich meine liebste Freundin Anette und schiebe mir noch mehr Low-Carb-Muffin in den Mund. Die Sonne geht langsam unter und wir genießen einen der ersten freundlichen Frühlingstage bei mir auf dem Balkon. Mit Low-Carb-Muffins und Jogi-Tee. Ein Experiment, das die Welt nicht braucht, aber da in drei Monaten „Strand“ angesagt ist, ist es einen Versuch wert. Meine Idee: vielleicht schmeckt der Muffin besser, wenn man möglichst viel davon im Mund einspeichelt? Aber eigentlich geht es um den neuen Grill von Anette und ihre Einladung zum Angrillen in zwei Wochen.
„Nein, Paul ist in Mexiko“, beantwortet sie mir meine Frage. Paul ist übrigens ihr Bruder.
Ich stutze. Paul ist in Mexiko? Das hört sich nach einem Revival seiner Backpacker-Tage an, was mich wundern würde, denn er ist vor vier Wochen mit seiner schwangeren Freundin zusammen gezogen. Niederkunft des Kindes: in knapp drei Monaten.
„Was macht er in Mexiko?“, hake ich skeptisch nach.
„Reisen“, antwortet Anette gedehnt und verdreht die Augen. Dann zieht sie eine Schnute und bestätigt meine unausgesprochenen Gedanken. Pauls Backpacker-Dasein dauerte ganze zwei Jahre. Er zog damals, vor nunmehr drei Jahren, ohne Rückreisedatum durch die Welt, auf der Suche nach einem Leben, das nicht sesshaft werden muss, wo der Tag irgendwann beginnt, vielleicht erst in der Nacht. Diese Jahre waren eigentlich vorüber, besagte schwangere Freundin hat er vor rund zwei Jahren hier in Berlin kennengelernt.
„Ja ich weiß, mein Bruder ist da etwas eigen. Aber er meint, dass wäre seine letzte Chance, nochmal unbeschwert und auf sich alleine gestellt durch die Gegend zu reisen. Das Baby kommt bald und Lucy hat wohl gesagt, er könne ihr ja eh nicht dabei helfen, das Kind auszutragen. Dann solle er lieber sein Fernweh stillen. In vier Wochen will er wieder hier sein.“
„Krass“, antworte ich. Die Eier muss man erstmal haben. Sowohl als schwangere Freundin, als auch als werdender Vater – aber auch als Paar! Sich die Freiheit zu nehmen und sich die Freiheit zu lassen, auf Gebräuche und Konventionen zu sch… und einfach nochmal loszuziehen, obwohl das Baby theoretisch jederzeit kommen könnte. Obwohl vor der Geburt eines Kindes so viel ansteht. Diese ganzen Kurse und Untersuchungen, Babypartys, Ausstattung kaufen, Bürokratie und Vorfreude, die geteilt werden will. Und der Paul? Der denkt sich: neue Wohnung, schwangere Freundin? Jobsuche nach dem Trip? Ach, was kümmert ihn der Alltag. Wird schon irgendwie klappen!
Ich schließe die Augen und drehe den Kopf in Richtung Kreuzberger Sonnenuntergang. Es ist da, in meinem Kopf und ich kann nichts dagegen tun. Das Wort „Egoist“. Ich mag Paul, aber ist Paul ein Egoist, Tendenz zur Verantwortungslosigkeit – oder sind die beiden das entspannteste Pärchen der Welt, von dem ich mir gerne eine Scheibe abschneiden würde?
Das wiederum führt unweigerlich zu der Frage:
Was ist denn Egoismus, ist er etwas Schlechtes und wann steht er uns und unserem Leben gut zu Gesicht?
Die Ausgangslage: Der Egoist, der nervt
Jeder kennt diesen einen Menschen. Der sich eigentlich nur meldet, wenn er oder sie etwas will. Für sich selbst, versteht sich. Diese eine Person, die am liebsten nur über sich selbst redet, an Terminen nach eigenem Belieben teilnimmt oder gerne mal verschiebt; diese eine Person, die „ihr Ding durchzieht“, ohne Rücksicht auf Verluste. Man kann das Gefühl bekommen, diese Person versuche mit ihrem Verhalten prophylaktisch ein Mehr an Aufmerksamkeit zu erhalten. Warum auch immer. Oft sind ausgeprägte Egoisten aber auch einfach nicht so empathisch, wie andere und können oder wollen sich nicht in die Lage anderer hineinversetzen.
Es ist nicht so, als wäre dieser Person nicht bekannt, dass sie sich in sozialen Gefügen bewegt (Ehe, Partnerschaft, Job, Familie, Freundschaft, Nachbarschaft etc.) und dass soziale Gefüge immer durch Geben und Nehmen verknüpft sind. Das wissen diese Personen sehr wohl. Durchaus wägen die hier beschriebenen Egoisten auch ab, ob es wirklich angebracht ist, den eigenen Sommerurlaub zu buchen, obwohl die Kollegin sich hinsichtlich der Urlaubsplanung noch Bedenkzeit eingeräumt hat. Das ist der Unterschied zum Egozentriker, bei diesem vollzieht sich die Ich-Bezogenheit eher unbewusst. Und den Egoisten ist in der Regel auch bekannt, dass sie viel Redezeit in Anspruch nehmen und sich am liebsten selbst reden hören. Aber es ist ihnen egal. Die eigenen Bedürfnisse schieben sich vor soziale Abwägungen. Der Drang nach sich selbst schiebt sich vor das Geben und stellt das Nehmen in den Vordergrund.
Jetzt könnte man meinen, um diese Personen sollte man lieber einen Bogen machen, da sie zum Leben anderer in der Regel nichts beizutragen haben. Andererseits ertappen wir uns dabei, wie wir diese Personen ein Stück weit feiern. Sie für ihren Mut bewundern, an dem wir uns hin und wieder gerne ein Beispiel nehmen würden. Etwa in den Momenten, in denen wir unsere eigenen Bedürfnisse hinten anstellen, um etwas für andere zu tun. Oder dann, wenn wir einfach mal über uns selbst berichten wollen, anstatt immer nur die Geschichten der anderen zu hören.
Egoismus, den wir brauchen und bewundern
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus, 12, 29-31).
Egoismus ist nicht per se ein negativer Charakterzug, ganz im Gegenteil. Unter vielen Gesichtspunkten wird die Ansicht vertreten, dass Altruismus, also die Selbstlosigkeit sogar erst möglich ist, wenn man mit sich selbst im Reinen ist, wenn man sich selbst genügend um sich kümmert. Auch wenn es um Karriere, die Jobchancen, Ziele im Leben geht, ist ein richtiges Maß Ichbezogenheit unerlässlich, um die eigenen Interessen voran zu bringen. Wie würde eine mündliche Gruppenprüfung für einen selbst ausgehen, wenn man die Antworten stets den anderen Prüflingen in der Gruppe überlassen würde? Wie würde die eigene Wohnung aussehen, wenn man bei der Wohnungssuche stets den anderen Interessenten den Vortritt lassen würde? Wie würde die eigene Fitness aussehen, wenn wir uns stets und ständig für andere vom Training abhalten ließen?
Egoismus ist also auch gesund. Denn Egoismus bedeutet zunächst nur, dass das ICH in den Vordergrund gestellt wird.
Was können wir lernen und wann geht Egoismus zu weit?
Es gibt aber eben auch die andere Variante der Ichbezogenheit. Egoismus geht dann zu weit, wenn er auf dem Rücken anderer ausgetragen wird. Wenn andere Menschen Einschnitte erleiden, nur damit der andere sein Ding durchziehen kann. Damit ist nicht gemeint, dass die Kinder sonntags mal zwei Stunden auf ihre sonst sehr fürsorgliche Mama verzichten müssen, damit diese eine Runde ins Fitnessstudio gehen kann. Damit ist auch nicht gemeint, dass das Abendessen mal nicht frisch gekocht, sondern frisch aus der Dose kommt. Es geht um eine Ichbezogenheit „um jeden Preis“. Zu weit geht diese Form der Selbstfürsorge auch dann, wenn man die Vorteile gesellschaftlicher Gefüge oder die Aufmerksamkeit anderer gerne für sich nutzt und aufsaugt, um das eigene Konto zu füllen, die anderen aber wie einen ausgetrockneten Schwamm zurück lässt. Wenn man permanent mehr nimmt, als zu geben, dann gerät etwas aus dem Gleichgewicht.
Diese Form des Egoismus wird von der Gesellschaft als abstoßend empfunden.
Der Spagat zwischen Ich und Du und Wir.
Nicht unberücksichtigt bleiben sollte, dass Egoismus oft als Totschlagargument genutzt wird, um andere klein zu halten und um sich selbst besser zu positionieren. Wenn man also sich also dem Vorwurf ausgesetzt sieht, egoistisch zu sein, sollte man nicht zu schnell in ein schlechtes Gewissen verfallen und einen Rückzieher machen. Lieber gründlich eruieren, ob das eigene Verhalten wirklich verwerflich oder nur „gesund Ichbezogen“ war und ob der Vorwurf aus einer Ecke kommt, die sich selbst gerne im Rampenlicht sieht.
Eine gesunde Selbsteinschätzung und Reflexion des eigenen Verhaltens ermöglichen den „Goldenen Weg“ entlang, zwischen den Du´s und Wir´s und Ich´s im Leben.
Love, V I D A.
Check:
Selbstsüchtig. Egoistisch. Egoman. Narzistisch. Ichbezogen. Gesunder Egoismus. Abstoßender Egoismus. Verständnis, Abwandlungen und Definitionen zu diesem Begriff sind vielseitig und können nicht per se auf ein Verständnis zum Begriff „Egoismus“ heruntergebrochen werden.
Als hochgradig egoistisch und damit sozial und moralisch abstoßend empfinden wir zumeist Menschen, die Nachteile anderer bewusst in Kauf nehmen, um eigene Vorteile voran zu bringen.
Oft denken wir aber auch nur, andere seien egoistisch, weil sie im Leben andere Prioritäten setzen, als wir selbst es tun würden. Oder weil sie andere Werte vertreten. Wenn man sich dabei ertappt, andere als egoistisch abzustempeln, kann es helfen, den eigenen Ärger kurz zu hinterfragen. Ärgere ich mich gerade über die Person, weil sie etwas auf meine Kosten getan hat? Oder war das Verhalten des anderen eigentlich „neutral“, für diese Person typisch und ich stempele sie als Egoisten ab, weil ich mir ein anderes Verhalten gewünscht hätte?
Foto: (c) Vida Jung. New York City Underground, 2017.