Wie kann man disziplinierter sein? Kann man Disziplin lernen? Von der Disziplin im Alltag und der Frage, ob wir zu hart zu uns selbst sind.
Seit einigen Monaten habe ich an der Kasse im Supermarkt oder in der Drogerie ein schlechtes Gewissen. Und daran bin ich selbst schuld, denn ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, weniger Plastikgüter zu kaufen und generell, Güter des täglichen Gebrauchs auf diejenigen zu reduzieren, die auch wirklich in Benutzung sind. Außerdem möchte ich mehr auf die Umwelt achten und möglichst umweltschonende Waschsubstanzen und Kosmetika nutzen. Will heißen: natürlich brauche ich keine fünf unterschiedlichen Arten Waschmittel. Habe ich reduziert. Natürlich braucht kein Mensch drei verschiedene Zahnpasten, Haarspülungen oder Deodorants in tausend Duftnoten. Und ja, es gibt super Alternativen zu aggressiven, chemischen Haushaltsreinigern. Der aufmerksame Leser ahnt, jetzt kommt ein „ABER“! Denn trotz dieser Ideen, die ich mir selbst auferlegt habe, kaufe ich hin und wieder Zeugs, einfach weil ich es hübsch finde. Oder eben doch den schärferen Kloreiniger, weil das Klo damit sauberer aussieht. Allerdings stehe ich in solchen Kaufsituationen an der Kasse wie bestellt und nicht abgeholt. Ich blicke verzweifelt um mich und frage mich, ob es wirklich legitim ist, keinen Bio-Reiniger zu kaufen. Und ist es vertretbar, öliges Sonnenöl zu kaufen, obwohl das auf der Meeresoberfläche einen chemischen Film hinterlässt? Torpediere ich mein eigentliches Vorhaben durch mich selbst, oder ist der kleine Ausbruch genehm?
Und so stehen viele Menschen heutzutage da, mit ihrem Ehrgeiz, gewissen Prämissen, eigenen Aufgaben und Prinzipien des Lebens. Und viel zu oft fragen wir uns: warum jetzt dieses schlechte Gewissen? Warum bin ich so streng mit mir?
Was hat es mit dieser Disziplin im Alltag auf sich? Mit den „kleinen“ Disziplinen wie „mehr Sport machen“, „drei Kilo abnehmen“, „weniger Plastikzeug kaufen“, „weniger Fleisch essen“, „keine Kosmetika mit Palmöl verwenden“, „weniger Alkohol trinken“ etc.?
Prinzipien als Strukturgeber
Prinzipien zu haben, ist meiner Ansicht nach erst einmal etwas Gutes. Prinzipien geben uns einen Rahmen im Leben, ein Standing und den nötigen Feinschliff des eigenen Charakters. Nehmen wir als Beispiel Prinzipien wie:
- „Ich esse kein Fleisch“,
- „Ich rauche nicht“,
- „Ich mache dreimal pro Woche Sport“,
- „Tiefkühlpizza esse ich grundsätzlich nicht“,
- „Im Urlaub kommt das Smartphone weg“,
etc. etc. Diese Beispiele ermöglichen es uns, gefestigt zu bleiben, weil wir weniger Entscheidungen treffen müssen. Wer weniger entscheiden muss, weil er den Entschluss zum Zeitpunkt X bereits getroffen hat, der ist weniger wankelmütig und freier im Kopf. Man kann seine Kraft für etwas anderes einsetzen. Man ist im Moment und mehr bei sich selbst. Ich persönlich muss mich nicht mehr entscheiden, ob ich „eine rauchen“ gehe. Meine letzte Zigarette ist 15 Jahre her. Ich muss auch nicht mehr entscheiden, welche Sorte Eier ich kaufe. Ich kaufe ausschließlich Bio-Eier aus dem Umland und das seit Jahren. Das sind meine persönlichen, gefestigten Prinzipien.
Nun ist es mit Prinzipien aber so: sind sie gefestigt und unumstößlich, ist das etwas Feines. Es gibt aber auch Prinzipien, die sind eher temporär und können uns echt in Bedrängnis bringen. Etwa der Entschluss, hier und da ein paar Kilos zu verlieren, weniger Schokolade zu essen, lieber Bio-Fleisch zu kaufen, weniger Plastikmüll zu produzieren etc. Es kann sich um etwas „lockerere Einstellungen“ handeln, obwohl uns das Thema eigentlich wichtig ist.
Wann tun uns unsere Prinzipien also gut und wann müssen wir unsere eigenen tadelnden Worte einfach mal stecken lassen?
Diese Frage zu beantworten, ist gar nicht so einfach. Denn jeder Mensch hat vermutlich unumstößliche Prinzipien. Daneben gibt es die etwas wackeligen Ideen und die Vorhaben, die in Wirklichkeit keine sind, sondern nur nach Gusto aufploppen. Gerade die wackeligen Einstellungen sind die, die uns zu oft in Bedrängnis bringen. Wie kriegt man hier Licht ins Dunkel? Ich habe einmal probiert, meine Prinzipien nach folgendem Schema zu sortieren:
Unterscheide die Themen nach
- Trends – suggeriert durch die Gesellschaft
- Äußerst relevanten Themen für dich und dein Leben
- Themen, die dir einfach am Herzen liegen
Viele Themen sind Trends, die durch die Gesellschaft, Entwicklungen oder durch die Medien suggeriert und beeinflusst werden. Einiges entspricht Tatsachen, über die jeder für sich nachdenken kann. Andere Themen sind Dauerbrenner, die eigentlich immer existent sind, von Zeit zu Zeit aber in den Fokus der Medien genommen werden und dem Beobachter dadurch „schlimmer“ vorkommen (Punkt 1.). Hier ist es wichtig, sich nicht von dem Elend, Leiden und den Katastrophen der Welt vereinnahmen, gar überwältigen zu lassen. Etwa das Beispiel mit der Sonnencreme und dem Schmierfilm auf der Meeresoberfläche. Das Thema ist im letzten Sommer von den Medien derart aufgebauscht worden, dass ich mich nicht mal mehr getraut habe, an einem Regal mit Sonnencreme vorbei zu gehen. Nur ist es leider so: die Alternativen zum regulären Produkt sind äußerst rar, extrem kostspielig und sehen auf der Haut auch noch bescheiden aus (weißer Film auf der Haut). Ich konnte nichts anderes tun, als den Medien und Diskussionen irgendwann keine Beachtung mehr zu schenken. Bei solchen „Trends“ so wenig Energie wie möglich investieren und sich bloß nicht dafür schelten, dass man zum Thema XY auf der Welt nichts beigetragen hat. Die Themen in den Medien und in der Gesellschaft werden von so vielen Faktoren beeinflusst, hier streng mit sich selber zu sein, weil man z.B. nichts von den Waldbränden in Kalifornien mitbekommen hat, ist verschenkte Energie.
Die Themen, die das Leben nachhaltig beeinflussen (Gesundheit, Job, Familie) sind Themen, bei denen gefestigte und unumstößliche Prinzipien hilfreich sind (Punkt 2.). In meinem Blogpost „Selbstdisziplin“ geht es um das Durchhaltevermögen und um das Durchziehen konkreter Projekte. Hierzu ist die Botschaft eigentlich klar: kein Ziel erreicht sich von alleine und je wichtiger das Anliegen für dein Leben ist (z.B. Lernen für die Uni) umso gefestigter und etwas strenger musst du zu dir selber sein!
Sortiere außerdem sorgfältig, welche Themen dir am Herzen liegen (Punkt 3.) und konzentriere dich möglichst auf ein konkretes Herzensprojekt. Kräfte zu verstreuen und zu meinen, man könne gleichzeitig die Wale, Kinder in Indien, Bienen in Deutschland und unsere Ozeane retten, ist Humbug. Auch Blödsinn: gleichzeitig eine Yoga-Ausbildung machen, einen Dritte-Welt-Laden eröffnen und zum Italienisch-Kurs rennen. Damit hilfst du niemandem, möge das Anliegen noch so ehrenwert und dein Herz noch so groß sein. Such dir ein konkretes Projekt, bei dem dir das Herz aufgeht. Oder arbeite deine Projekte nach und nach ab. Denn jedes deiner Herzensprojekte hat dann deine volle Aufmerksamkeit garantiert und das schlechte Gewissen meldet sich gewiss nicht so, als würdest du auf zehn Baustellen gleichzeitig arbeiten.
Von Umwegen und Auszeiten: Woran erkenne ich, ob Umwege und Auszeiten legitim sind?
Wenn es zu einer Situation kommt, in der du wankelmütig wirst und nicht weißt, ob du dir einen kleinen Umweg erlauben darfst, schlage ich folgendes vor:
Teste Dich selbst
- Um was geht es? Um Themen, die dein Leben langfristig beeinflussen (Berufsabschluss, gesundheitliche Ziele, Seele, Psyche, Beziehungen)? Oder geht es um random-Zeug, um Trends, die in einem Jahr wieder einen ganz anderen Stellenwert in deinem Leben haben könnten? Je bedeutender das Thema für dich persönlich ist, umso höher ist der Grad der Selbstdisziplin anzusetzen, wenn du das Ziel ernsthaft erreichen willst oder gar musst. Ziele erreichen sich nun einmal nicht von selbst!
- Du fragst dich, ob ein kleiner Umweg drinn´ ist? Dann frage dich selbst, wie weit du von deinem Ziel entfernt bist. Du willst abnehmen? Stell dich vor den Spiegel und sei ehrlich. Du musst für die Uni lernen? Schreibe eine Probeklausur. Du willst weniger Zeug kaufen? Wirf einen Blick in deinen Kleiderschrank / in deine Putzkammer / in deinen Kosmetikschrank. In der Regel haben wir von allem genug. Du selbst kannst dir die Frage beantworten, ob du von deinem Ziel weit, mittel oder nur noch kurze Zeit entfernt bist. Bist du weit von deinem Ziel entfernt, solltest du keinen Umweg gehen. Sonst musst du noch mehr Energie aufwenden, um den Umweg wieder wett zu machen.
- Die Dosis macht das Gift: je nachdem, um was es geht, gilt auch hier die Regel des „Goldenen Mittelweges“. Du musst lernen, aber am Wochenende stehen Partys an? Dann geh den Goldenen Mittelweg und übertreib es nicht. So kann sich auch kein schlechtes Gewissen melden.
- Bewusste Cheat-Days einplanen: Tatsächlich sind feste Auszeiten wichtig, um den Mut und die Kraft nicht zu verlieren. In Lernphasen ist es wichtig, Freizeit und Ruhepausen einzuplanen. Bei sportlichen Zielen sind Ruhetage für den Körper wichtig für die Regeneration usw. Und auch wenn wir weniger kaufen oder Geld ausgeben möchten, helfen bewusste Ausbrüche, die Sache leichter zu nehmen. Bewusste Cheat-Days helfen Geist und Körper, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen und sich zu erholen. Plane diese „Betrugstage“ jedoch bewusst und möglichst zu gleichen Zeiten ein. Dann kannst du den Rest der Woche oder des Monats so einrichten, dass der Cheat-Day mit eingeplant ist und sich nicht „rächt“.
- Analysiere dich selbst: bist du ein Typ, der eine gute Selbsteinschätzung hat, ob er schon genug gelernt, gegessen oder Sport getrieben hat? Dann kommst du auch mit weniger strengen Prinzipien gut klar. Oder bist du eher der Typ, der die Wahrheit gerne etwas überdehnt oder sich an die letzten zwei Tafeln Schokolade schlicht nicht erinnern kann? Dann sind festere Prinzipien vermutlich eher dein Ding, weil sie dir (wenn du dich daran hältst) eine Struktur bieten, an der du dich „nur“ entlang hangeln musst.
Die Idee von „teste dich selbst“ zeigt uns die Antwort auf, die wir uns in einem schwachen Moment gerne selbst geben würden.
Ein persönliches Fazit
Wenn es um große Ziele mit Tragweite für das Leben geht (Uni-Abschluss, Berufsabschluss, Gesundheitszustand, Beziehung, Seelenfrieden) dann ist es legitim, auch mal sein eigener Knecht zu sein, etwas strenger mit sich selbst zu sein. Wenn es schmerzt, bedeutet das, dass sich wirklich etwas verändert. Kein Uni-Abschluss schafft sich von selbst. Und wenn du 20 Kilo verlieren musst, um ein gesünderes und längeres Leben zu haben, dann ist das keine geile Zeit. Das ist dann eben so. Aber du weißt, wofür du es machst. Du weißt, was das Ziel ist. Ziele erreichen sich nicht von alleine. Sie brauchen jemanden, der sich erschöpft, aber letztlich glücklich, durch das Ziel hindurch schleppt.
Wenn es um Nebenprojekte und die kleinen Themen des Alltags geht, sei nicht so streng mit dir. Ich breche nicht mehr in Tränen aus, weil ich aus Versehen doch die fünfte Mascara gekauft habe oder das zehnte Paar Sneaker im Jahr. Denn dafür benutze ich ausschließlich umweltfreundliches Spülmittel. Und ich spende mehrmals im Jahr sehr gut erhaltene Kleidung und Schuhe an die Kleiderkammer meines Bezirks. Dafür habe ich keine Patenschaft für Pandabären. Was sollen die auch mit meinen getragenen Klamotten?
Love, V I D A
Check:
Die Psychoanalytikerin Karen Horney war der Ansicht, dass viele Menschen nicht aus eigener Überzeugung handeln, sondern aus Meinungen der sozialen Umwelt heraus (Familie, Job, Schule, Freundeskreis). Die durch diese Umwelten verinnerlichten Botschaften zeigen sich vor allem in verinnerlichten Geboten, auch „Soll“-Botschaften genannt. Man „soll“ eine Familie gründen. Man „soll“ heutzutage studieren. Man „soll“ eine eigene Immobilie kaufen. Man „soll“ die Familie ehren. Karen Horney empfahl ihren Patienten, die unterschiedlichen Einflüsse des eigenen-Selbst und dieses fremden-Selbst zu erkennen, um nicht in eine Spirale der Selbstverachtung zu geraten – was schnell passiert, wenn die inneren Wertevorstellungen und Ideen nicht mit den gesellschaftlichen „Solls“ übereinstimmen. Viele Menschen sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens unzufrieden sind, weil sie fremden „Solls“ hinterherlaufen, die mit der inneren Einstellung nicht zusammen passen.
Wen dieses Thema tiefer interessiert, Schlagwort ist „Die Tyrannei der ´Solls´“. Von Karen Horney (1885 – 1952)
Noch ein Tipp zum Thema gesellschaftliches / ehrenamtliches Engagement: lieber regional als überregional aktiv werden. So siehst du Erfolge eher und erlebst die Tätigkeiten hautnah. Wenn du berufstätig bist oder deine Zeit rar gesät ist, spende lieber Geld oder materielle, wirklich benötigte Güter. Zeit zu spenden ist zwar sehr edel. In der Regel kommen damit aber nur Rentner wirklich gut klar.