
Und warum „erwarten“ etwas mit „warten“ zu tun hat.
„Mama ist sauer mit uns.“
„Warum?“
„Weil wir ihr nicht beim Streichen geholfen haben.“
„Verstehe ich nicht. Sie hat doch gar nicht gefragt, ob wir helfen.“
„Naja, sie ging davon aus, dass zumindest eine von uns ihre Hilfe anbieten würde.“
„Soweit ich mich erinnere, hat sie vor zwei Wochen beim Pizzaessen kundgetan, sie wird noch im Januar ihr Wohnzimmer streichen. Clara hat sich nach der Farbe erkundigt (Lindgrün), was allgemeine Bewunderung gefunden hat, und dann ging es plötzlich um die Hochzeit von Erika (unserer Cousine). Ich habe das mehr als Statement empfunden, nicht als Bitte um Unterstützung.“
„Sie hat halt erwartet, dass wir unsere Hilfe anbieten. Gib mal die Cola.“
„Hat sie das so gesagt?“
„Ja.“
Ich runzele die Stirn und stopfe langsam etwas Popcorn in den Mund. Der Film hat noch nicht begonnen, auch die Werbung läuft noch nicht. Meine Schwester Pia und ich sind etwas zu früh im Kino, was uns aber nicht stört. So haben wir noch Zeit zum Quatschen. Ich dachte zwar, wir würden unseren anstehenden Skiurlaub konkretisieren, aber wir können natürlich auch über Erwartungen sprechen.
Während ich das Popcorn zerkaue, analysiere ich die Worte meiner kleinen Schwester.
„ … ging davon aus … selbstverständlich … Hilfe anbieten …erwarten.“
In mir macht sich etwas breit. Es ist ein Gefühl, noch lose und undefinierbar, aber es wächst. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber ich spüre, dass es da ist, dass es größer wird und dass es Beachtung möchte. Ist es Groll? Nein. Groll wäre gleich aggressiver. Groll spüre ich an den Augen, sie werden warm, verkniffen und ganz klein. Außerdem beschleunigt sich mein Herzschlag. Beides ist gerade nicht der Fall. Ist es Verwunderung? Ja, durchaus. Ich bin über die Aussage verwundert. Ist es ein schlechtes Gewissen? Verdammt, das könnte es sein! Möchte ich aber gar nicht haben, denn warum sollte ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben? Weil unsere Mutter etwas erwartet hat, von dem wir nichts wussten? Tricky.
Andererseits: wäre ich aufmerksamer gewesen oder wären wir Schwestern (es gibt mehrere von uns, dazu später mehr) aufmerksamer gewesen, hätten wir, gut erzogen wie wir sind, das Signal nicht empfangen können? Hätten wir das Signal unserer Mutter nicht sogar empfangen müssen? Und was viel schlimmer ist: ist es nicht selbstverständlich, Unterstützung anzubieten?
Ich versuche die Position zu klären.
„Ich habe es wirklich so verstanden, dass es für sie kein Problem ist, das Wohnzimmer zu streichen. Sie hat den Entschluss gefasst, die Farbe und das ganze Zeug besorgt, fertig. Ich habe auch keine Kristallkugel zu Hause. Ich kann nicht wissen, was Mama für sich allein, in ihrem Kämmerlein ´erwartet`. Außerdem sagt Papa immer, erwarten kommt von warten.“
Unsere Eltern sind seit über 20 Jahren geschieden.
„Was meint er damit?“
„Noch eine Floskel von Papa: Sprechenden Menschen kann geholfen werden. Er meint damit, dass niemand deine Erwartungen, die du mit dir alleine ausmachst, erahnen kann. Wenn du nicht sagst, was du dir wünschst, kannst´ e lange warten, bis deine Erwartungen in Erfüllung gehen.“
Pia verzieht den Mund zu einer Grimasse. Der Vorhang geht auf. Die Werbung beginnt.
„Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich mir auch gewünscht, dass mir jemand hilft, wenn ich so etwas vorhabe. Ohne darum bitten zu müssen“, kommentiert sie leise.
Ich verdrehe die Augen. Pia wieder. Emotional am Start.
Meine Gedanken werden abgelöst von einem recht unterhaltsamen Actionfilm. Danach geht jede von uns ihre Wege. Pia steigt in ihren Mini und düst in Richtung Wilmersdorf. Ich stapfe durch eine neblige Januarnacht nach Hause. Der Himmel ist verhangen, die Luft kalt, aber nicht eisig. Bevor ich im Bett liege, möchte ich meinen Gedankengang zu „Mamas Erwartungen“ gerne abgeschlossen haben, sonst kann ich nicht gut schlafen. Ja, vermutlich hätte ich mich auch gefreut, wenn mir jemand seine Hilfe angeboten hätte. Allerdings: hätte ich Hilfe gebraucht, hätte ich dies auch artikuliert. Und zwar ohne große Umschweife. Unsere Familie ist groß, jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Im Alltag zwischen Karrieren, Bachelor-Arbeiten, Stress mit dem Vermieter oder gescheiterten Beziehungen kommen wir nicht immer dazu, jedes Signal des anderen zu empfangen. Manchmal sind die Signale zu schwach. Manchmal ist der Empfänger nicht sensibel genug. Manchmal ist man auch einfach nicht der richtige Ansprechpartner. Eigentlich kein Problem. Lasst uns doch einfach darauf einigen, dass derjenige, der Unterstützung braucht, dies ausdrücklich äußert. Dann kann doch eigentlich nichts schiefgehen, oder?
Denn problematisch und unfair wird es tatsächlich an der Stelle, an der der eine mit sich selbst eine Erwartungshaltung ausmacht, um dann zu schauen, wer sensibel genug ist, um das Signal zu empfangen. Für solche Spielchen sollten weder die Familie, noch andere soziale Bindungen herhalten müssen.
Ich atme tief durch, öffne das Gatter zum Innenhof und schließe es möglichst leise. Erwartungen sind etwas fürs Innenleben. Mein Vater hat mit seinem Spruch „wer erwartet, wartet“ recht. Ich möchte kein schlechtes Gewissen haben müssen, weil ein anderer in sich einen Gedanken aufgebaut hat, den ich nicht kenne. Das wiederum werde ich kommunizieren müssen, damit es zu solchen Situationen nicht mehr kommt.
Denn: dass ich mir wünsche, dass andere ihre Wünsche mir gegenüber klar und deutlich aussprechen, das wiederum können die anderen nicht wie durch Zauberhand erahnen. Kristallkugeln gehören in die Zauberkiste. Nicht ins Familienleben.
Love, Vida.
Check:
Die „Erwartung“ stellt in der Soziologie einen wichtigen Grundbegriff dar. Erwartungen sind „Annahmen eines Handelnden darüber, was ein anderer oder mehrere andere tun würden.“ Bei dieser Definition handelt es sich um die antizipatorische Erwartung. Es kann aber auch um das gehen, was aus Sicht des Erwartenden billigerweise getan werden sollte, also um eine bewertende Erwartung. Die Soziologie arbeitet hier auch mit dem Begriff der „Rollenerwartung“. Meine Mutter hat in ihrer Rolle erwartet, dass andere in der Familie aufgrund ihrer Rollen Hilfe anbieten müssten. Das ist eine sehr knappe Darstellung des Themas und umfasst längst nicht alle Definitionen und Herangehensweisen.
Für viele Menschen spielt das Thema rund um Erwartungen, etwa zwischen Kind und Eltern, in der Familie, aber auch auf der Arbeit, zwischen Kollegen und unter Freunden eine wichtige Rolle. Erwartungen werden oft enttäuscht, gerade weil sie tief in unserem Innenleben gebildet und nur in seltenen Fällen kommuniziert werden. Es handelt sich hierbei also auch (aber nicht nur) um eine Herausforderung im Bereich Kommunikation. Erwartungen sind aber auch deswegen eine verzwickte Sache, denn selbst wenn die Erwartung kommuniziert wird, heißt das noch lange nicht, dass der Adressat auch in der Lage ist (physisch, psychisch, oder auf welcher Ebene auch immer), der Erwartung zu entsprechen.
Wer sich für dieses Thema interessiert, möge bitte einfach das Wort „Erwartungen“ googeln. Es gibt viele gute Psychologieseiten im Netz, die Ursache und Wirkung erklären und auch auf das spannendeThema „Erwartungen loslassen um glücklicher zu leben“ eingehen.