Was ist Toleranz eigentlich, wie zeigt sie sich im täglichen Leben und warum habe ich das Gefühl, toleranter zu sein, als andere?
Toleranz. Wenn Situationen schwierig werden, Menschen, Meinungen und Lebenswege aufeinander treffen, dann ist der Hinweis auf „mehr Toleranz“ oft nicht weit. Manch einer nutzt ihn, um sich selbst zu beruhigen. Andere versuchen, ihr Umfeld mit der Zauberformel „Toleranz“ umzustimmen und andere Denkweisen aufzuzeigen.
Aber muss man wirklich so oft tolerant sein? Wo ist Toleranz zwingend nötig und wann darf man auch einmal getrost dagegen halten? Ein Gedankenexperiment aus dem Leben:
Es ist Sommer. Sardinien brütet unter sengender Hitze, es sind 37° c im Schatten. Die Luft ist trocken und heiß. Ein gleichmäßiger Wind pustet sie in unsere Gesichter und irgendwie auch unter die Haut. Wir waren heute schon am Meer, haben uns zum Mittagessen eine kleine Pizzeria am Strand gesucht, salzige, grüne Oliven gegessen und auf das rauschende Meer geschaut. Die Badebucht direkt unter der Pizzeria präsentierte sich in tiefem Blau, milchigem Grün und strahlendem Türkis – alles gleichzeitig. Meine Haut fühlte sich bereits an diesem dritten Urlaubstag sonnendurchtränkt und vom Meerwasser ausgetrocknet an. Die Augen sind erschöpft von dem vielen Licht und werden doch nicht müde, in die Ferne zu schauen. Denn dieses Blau, diese Weite, die vermisse ich Daheim doch ein wenig. Den Geist so weit hinaus schicken zu können, zu sehen, ohne auf eine Mauer zu stoßen, das ist wie, den Kopf durchzulüften. Meiner Meinung nach braucht der Geist die Weite um zu leben, aber das ist ein anderes Thema. Nach dem Pizzaessen möchten wir den Nachmittag ruhig ausklingen lassen und ziehen uns hierfür in unser Bed & Breakfast, ein Stück vom Meer entfernt in einem kleinen Bergdorf nahe Sassari, zurück. Die Idee ist, zu duschen, ein wenig zu schlafen, die Hitze des Nachmittags auszutricksen und erst gen Abend zu einem Altstadtbummel nach Alghero aufzubrechen.
Ein guter Plan, wie wir finden.
Ein besch****** Plan, wie die fremden Kinder im Zimmer nebenan finden.
Seit gestern haben wir Zimmernachbarn, junge Holländer mit zwei kleinen Kindern im Alter von vier und einem Jahr. Die Kinder waren heute schon um kurz vor sieben wach, hatten ihren Spaß mit lautem Getobe und Geschrei im Zimmer. Obwohl mein Mann und ich keine Langschläfer sind, war die Nacht damit doch zu früh beendet. Der Nachmittag hört sich nun ähnlich turbulent an. An eine Siesta ist nicht zu denken, die Kinder spielen und zanken, toben und brabbeln vor sich her. Alles im Zimmer nebenan, auf hellhörigen 24 qm. Ich wickele mich aus den Bettlaken, stöhne in die Hitze hinein und schalte die Klimaanlage an. Mein Mann schmunzelt. Die letzten drei Tage Sardinien haben ihn bereits entspannt, satt ist er auch, seine Haut hat einen olivefarbenen Ton angenommen. Seine grünen Augen beschwichtigen mich. Sei tolerant, will er sagen, er muss es nicht einmal aussprechen.
Es könnten Floskeln folgen wie:
„Kinder sind nun einmal laut“
„Du warst auch mal klein“
„Die Eltern haben auch Urlaub“ etc. etc.
Ich schnappe mir meinen Laptop und sitze nun hier, auf dem Balkon und denke über Toleranz nach. Die Kinder sind nur der Auslöser für diese Gedanken, es geht mir nicht um Erziehungsfragen oder Familienbilder. Das Thema mit den schreienden Kindern im Hotelzimmer gehört vielleicht auch eher in die Rubrik „gegenseitige Rücksichtnahme“ – nichtsdestotrotz, mich hat die Situation dazu gebracht, über Toleranz nachzudenken.
Denn ich habe mich schon häufiger gefragt, ob der Ruf nach Toleranz im täglichen Miteinander (im Urlaub, auf der Arbeit, unter Nachbarn, in der Familie) nicht intolerant denjenigen gegenüber ist, von denen genau diese Eigenschaft eingefordert wird.
Aber um diese Frage zu beantworten, muss ich zunächst den Versuch einer Definition zum Begriff der Toleranz wagen:
Toleranz wird allgemeinsprachlich als „Weg der Duldsamkeit“ definiert. Es geht um ein „Geltenlassen“ und darum, andere in ihren Überzeugungen, Handlungen und Lebensweisen „gewähren zu lassen“. Intolerant hingegen bezeichnet das Nichtvermögen, andere Wege oder Weltanschauungen gelten zu lassen. Toleranz bedeutet aber auch, dass ein Stück zur Akzeptanz fehlt. Es ist zwar ein Gewähren lassen, das ja. Sich mit der Handlung oder Denkweise im Einklang befinden oder diese annehmen können? Dafür ist die Akzeptanz gedacht, nicht die Toleranz. Die Toleranz ist damit also auch nicht soooo großartig, wie viele vielleicht denken, aber immerhin ein erster Schritt in eine ruhigere, zankfreie Richtung.
Im weiteren Sinne finden sich Definitionen in der Rechtslehre, der Philosophie, der Soziologie und der Ethik, wobei es überwiegend darum geht, den Umgang mit Konflikten in sozialen Systemen zu umschreiben. Der Begriff der Toleranz wird angewandt auf Konflikte im Umgang mit Minderheiten, in Weltanschauungssachen und im Umgang mit Religionen. Ich möchte hier keine Doktorarbeit über den Begriff der Toleranz zum Schutz von Minderheiten u.a. verfassen, mir geht es um die täglichen Begegnungen, das bürgerliche Leben und das Aufeinandertreffen in „normalen“ Situationen, die ein „Gewährenlassen“ nahe legen, gar abfordern.
In diesem Zusammenhang und ohne die religiöse Prägung, die der Begriff in der Geschichte zu meist erlebt hat, stelle ich mir Toleranz als „Betonung individueller Freiheiten“ vor.
Leben und leben lassen, das Sprichwort passt perfekt.
Einerseits kann man festhalten, dass ein Leben in einer Gesellschaft ohne das nötige Mindestmaß an Toleranz nicht lebenswert wäre. Würden wir alles Neue, alles Individuelle und „Andersartige“ immer mit Argwohn und Skepsis betrachten, gar verurteilen und von uns weisen, so würden wir schnell eine Mauer um uns herum bauen, die anderen den Umgang mit uns schwer machen würde. Zudem müsste man sich die Frage stellen, ob das regelmäßige Abweisen von anderen Lebensideen oder Verhaltensweisen schöne Gefühle beschert. Wohl eher nicht. Menschen, die von Grund auf intolerant sind, beschäftigen sich viel mit negativen Gedanken. Sie stoßen von sich, was sie nicht wollen und erkennen nicht, dass sie sich damit selbst zu ungeliebten Personen machen. Intoleranz beschert unschöne Gefühle. Und die möchte ja nun eigentlich niemand in seinem Leben.
Auf Intoleranz passt der T-Shirt-Spruch: „Egal, was es ist, ich bin dagegen.“
Außerdem ist es so, dass Intoleranz dafür sorgt, dass man sich selbst für wichtiger nimmt, als andere. Auch das ist ein probates Mittel, um im schlimmsten Fall irgendwann alleine da zustehen.
Andererseits ist es so, dass Toleranz nicht bedeuten kann, dass denjenigen gewährt werden muss, die lauter, andersartiger, neuer oder besonders individuell sind. Denn was ist mit den Neutralen? Denjenigen, die keinen großen Hokuspokus brauchen, die aber trotzdem gerne ihr Mittagsschläfchen halten möchten? Die nicht an Aliens oder Big Food glauben, sondern lieber auf handfeste Beweise warten, ehe sie sich solcher Ideen anschließen? Die werden häufig als Spießer gehandelt. Aber warum mit den „Spießern“ nicht nachsichtig umgehen? Warum diese Lebensweise nicht ebenso respektvoll gewähren lassen? Auch die Andersartigen können schnell zu Intoleranten werden, wenn sie nicht in der Lage sind, sich zurück zu nehmen.
Toleranzgrenzen und Wahrung der eigenen Wohlfühlzone
Die Welt dreht sich nicht nur um mich – aber wenn meine Welt sich nicht um mich drehen soll, um wen denn dann? Ginge es anderen tatsächlich besser, wenn ich meine Bedürfnisse und Ansichten zurückstelle um „gewähren zu lassen“ und wenn ja, warum wurde ich dann mit einem eigenen Gehirn, einem eigenen Mund, eigenen Gedanken und Worten beschenkt? In einigen Denkschriften und philosophischen Ansätzen steht es außer Frage, dass der Mensch nicht auf der Erde ist, um anderen gefällig zu sein. Um nur andere gewähren zu lassen und sich selbst zu vergessen.
Ich glaube, genau das ist der schmale Grat, ich habe ihn gefunden! Viele Menschen meinen zwar den Begriff „Toleranz“, erwarten in Wirklichkeit aber ein Gewährenlassen, das sie selbst nicht zurück geben können oder wollen.
Oder anders gesagt: viele Menschen sind sich selbst der Nabel der Welt – nur ich darf nicht meiner sein.
Fazit:
Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Schluss, dass ein zurückhaltendes Gewährenlassen für mich persönlich immer der erste Schritt sein soll. Zum einen beruhigen sich die Gemüter oft schneller, als man ursprünglich dachte. Zum anderen möchte ich möglichst wenig negative Emotionen in mir haben, denn damit muss am Ende immer ich selbst fertig werden. Niemand hilft mir dabei. Zum anderen spricht nichts dagegen, sich andere Verhaltensweisen und Lebenswege anzuschauen – vielleicht lerne ich noch etwas dazu oder entdecke Umgangsformen, die mich begeistern?
Klar ist jedoch auch, dass Toleranz keine Einbahnstraße sein darf. Wenn eine Toleranzgrenze überschritten wird, indem sich die Verhaltensweisen anderer unverhältnismäßig negativ auf das Leben anderer auswirken, dann hat ein Innehalten nichts mehr mit respektvollem Gewährenlassen zu tun. Wer meine Toleranzgrenze Übermaßen strapaziert, der versucht, meine Toleranz auszunutzen. Und das möchte ich nicht.
Die Familie mit den schreienden Kindern reist in drei Tagen ab. Ein überschaubarer Zeitraum, der mir die nötige Zuversicht schenkt, ernsthaft tolerant sein zu können. Gleichwohl: sobald das Treppenhaus in ein Fußballstadion verwandelt wird, werde ich vermutlich freundlich darum bitten, den ruhigeren Hausnachbarn gegenüber etwas tolerant zu sein – und damit meine ich, leise.
Love, V I D A.
P.S. und Nachtrag: mehrere Mütter bestätigten mir im Nachhinein, dass es durchaus o.k. gewesen wäre, die Eltern der Kinder um etwas mehr Rücksicht zu bitten – um noch einmal auf das Thema „Rücksichtnahme“ zurück zu kommen. Angeblich ist es so, dass Eltern für den Lärm ihrer eigenen Kinder kein Gespür haben und deswegen zu selten um Ruhe bitten. Ich werde es mir merken 😉