
Ich tausche einen Großteil meiner Lebenszeit gegen die Ermöglichung eines Daseins in einem Radius von 20 km in Berlin. Ist das richtig so? Und was würde es bedeuten, würden wir der letzten Konsequenz, die Selbstfindungsbücher gerne vermitteln, wirklich folgen?
Schon die Überschrift „Sinn des Lebens“ in diesem Abriss meiner Gedanken hier ist nicht korrekt. Aber es ist wohl DAS Schlagwort, das Menschen eingeben, wenn sie sich mit der Zeit, unserem Dasein, dem Erfüllen von Lebenswegen und mit dem Kreislauf von Lebensmodellen beschäftigen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens im weiteren Sinne beschäftigt mich aber nicht. Es geht mir nicht darum zu erfahren, „warum wir hier sind“. Es geht mehr um den Sinn im Leben. Im engeren Sinne. Man könnte auch sagen, es geht um die Frage nach MEINEM Dasein und ob ich mein Dasein wirklich lebe.
Ich hinterfrage nicht erst seit gestern, ob das Modell, das ich lebe, mein Dasein befüllt. Ich bin Anfang dreißig, Literatur in diese Richtung lese ich schon seit Anfang zwanzig. Angefangen hat es mit Motivationsliteratur. Irgendwann nach dem Studium stellt sich die Frage danach, wie man seine Tage verbringen möchte, zum ersten Mal mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Denn die Flexibilität des Studentenlebens ist plötzlich dahin. Die Bafög-Förderung stoppt. Arbeitgeber schielen um die Ecke. Die Miete muss bezahlt werden, wie all die Jahre zuvor auch. Und ehe man sich versieht, hat man den ersten 9-to-6-Job. In 99% der Fälle ist es ein Bürojob. Das Einstiegsgehalt ist solide. Man freut sich darüber, einmal pro Woche Sushi bestellen zu können, ohne das Dispo bemühen zu müssen. Und nein, es ist keine Frage ausschließlich der Generation Y, wenn es um flexible Arbeitszeiten, Sabbaticals oder Auszeiten vom Alltag geht. Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und 30 Urlaubstage pro Jahr genügen einem Großteil der Menschen nämlich schon, um die Frage nach der Ausgestaltung der Lebenstage nicht wirklich stellen zu müssen. Ein wenig Freiraum, eine solide Gehaltsbasis, drei Zimmer in Berlin Mitte. Für „Mehr“ ist bei vielen keine Gedankenkraft übrig. Und das ist auch völlig ok so! Aber es gibt eben auch die anderen. Diejenigen, die schon tiefer eingetaucht sind in diese speziellen Selbstfindungs-Fragen, die für sich persönlich aber noch keine wirkliche Alternative zum jetzigen Lebensmodell gefunden haben.
Das Leben im Schema F ist mir vertraut. Ich bewege mich in einem Radius von 20 km in Berlin. Hier lebe ich. Von der City West, rüber bis zum Alex. Kleine Ausrutscher runter nach Wannsee oder nach Friedrichshain sind, familienbedingt, nicht zu vermeiden. Ich gehe Wochentags täglich zur Arbeit. Jeden Tag das gleiche Büro. Die gleichen Kollegen. Alle sind nett zu mir. Ich bin mir darüber bewusst, dass ich jeden Arzt fußläufig erreichen könnte, wenn ich müsste. Mein Kühlschrank ist immer gut gefüllt, ich lebe so, wie vor 100 – 150 Jahren nur Adlige hätten leben können. Ich bin gesund und munter und ich bin dankbar für diese sehr sicheren 20 km, in denen ich leben darf.
Ja, ich bin aus tiefstem Herzen dankbar dafür. Ich brauche diese 20 km. Und trotzdem ist der Gedanke teilweise befremdlich, dass mein Leben (und bis jetzt gehe ich davon aus, dass ich nur dieses eine haben werde) in genau diesen exakt immer gleichen 20 km stattfindet. Urlaube ausgenommen. Wenn ich mir diesen Umstand noch bewusster mache, dann bedeutet es, den Großteil meiner Zeit, die mir auf dieser Welt geschenkt wurde, verbringe ich also an einem Schreibtisch, damit am Ende des Monats Summe X auf dem Konto ist. Diese Summe X wiederum dient dazu, das Leben in den 20 km zu ermöglichen und das auf angenehme Art und Weise. Ich zahle von der Lebenszeit, die ich am Schreibtisch sitze, Miete, Essen, Kino, das Auto, Reisen, das Smartphone etc. etc.
Ich tausche meine Lebenszeit gegen die Ermöglichung eines Daseins in einem Radius von 20 km in Berlin.
Meine Gefühle dazu sind ambivalent. Einerseits habe ich mir diese 20 km ausgesucht und ich liebe sie sehr. Kino, Park, Familie, Arbeit – alles um die Ecke. Alles mit dem Fahrrad erreichbar, streng genommen bräuchte ich kein Auto.
Und andererseits?
Manchmal habe ich trotz meiner Dankbarkeit und meines Stolz, mir all das selbst erarbeitet zu haben, das Gefühl, als könne das doch nicht alles gewesen sein, was ich aus dem Geschenk „Leben“ mache. Aber warum nicht? Weil Selbstfindungsbücher die Frage danach stellen? Weil ich jemand bin, der auch mal inne hält, zur Ruhe kommt und sich fragt, ob ich mit alle dem hier fein bin? Fehlt irgendetwas? Brauchen die 20 km Feinschliff?
Und was wäre die Alternative?
Gegen ein Innehalten und sich dessen, was man hat, bewusst zu werden, dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Schwierig wird es jedoch dann, wenn eine gewisse Unzufriedenheit (aktuell oder ständig) in der Person vorhanden ist und diese sich dann den bekannten Fragen aus den Lebensweg-Büchern widmet.
„Ist das alles?“ „Was will ich?“ „Fehlt mir etwas?“ „Gegen was tausche ich tagtäglich meine Lebenszeit?“
Für diejenigen, die in sich tiefe Dankbarkeit empfinden, von Natur aus eher zu den Optimisten zählen, hier und da aber einen Feinschliff an ihrem Leben vornehmen, für diejenigen können diese Fragen extrem bereichernd wirken. Aber nehmen wir einmal an, wir haben eine Person, die eher pessimistisch eingestellt ist, viel Unzufriedenheit verspürt, sich ständig fragt, warum das Leben zu anderen so gut ist. Diese Person ahnt schon immer, dass ihr Job als Kassiererin doch nicht DAS Leben sein kann, welches ihr hier auf dieser Erde zur Verfügung gestellt wurde. Was tut diese Person mit den Selbstfindungsfragen? Nennen wir die Person Sissi. Was tut Sissi in letzter Konsequenz?
Alles aufgeben? Job an der Kasse, Auto, Wohnung, Freundeskreis. Sissi und ihr Mann, sie reisen um die Welt. Denn es gibt ja so viel zu sehen, zu helfen, zu erschmecken und zu atmen. Die Welt könnte Sissi um sich herum spülen und sie würde sich treiben lassen. Und dann tut sie was? Sie sitzt am Strand von Taka-Tuka-Land und beobachtet die Wellen. Zigarettenstummel werden auch hier heran gespült.
Die Frage nach der Lebenszeit ist auch eine Frage nach den Aufgaben, die wir uns selbst geben.
Meine Aufgabe war es schon immer, zu lesen und zu schreiben. Geschichten anderer zu begleiten und eigene Worte zu finden. Das fühlt sich lebendig an.
Wenn die weltbekannten Selbstfindungsbücher also fragen: „Führst du ein erfülltes Leben? Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest“, dann ist damit nicht zwingend gemeint, dass ein Aufgeben der eigenen 20 km nötig ist, um seine Lebenszeit wahrhaftig zu gestalten. Damit ist gemeint, die 20 km, in denen man sich bewegt, zum eigenen Leben zu machen.
Meine Nachbarn und ich, wir leben gemeinsam im selben Umkreis von 20 km. Aber jeder nutzt dieses Terrain anders, holt sein Leben hier herein und holt sich selbst darin ab. Ich gehe nicht zum Schulflohmarkt. Meine Nachbarn schon. Ich singe nicht im Kirchenchor. Meine Nachbarin drei Stockwerke tiefer schon. Ich habe keinen Hund, der mich durch den Park begleitet. Ich schaue mir die Hunde an, die andere in diese 20 km mitbringen.
Sehr wohl geht es also darum, mal einen Schritt zurück zu machen, zu betrachten, was da ist, und wie schön die 20 km, in denen man lebt, tatsächlich sind. Es geht auch darum, sich von den materiellen Wellen, die uns überrollen wollen, nicht vor sich her treiben zu lassen. Wer ständig unzufrieden ist, weil die Werbung suggeriert, diesen Sommer sei dieser neue Turnschuh überlebenswichtig oder jene neue Tasche ein Must-Have, der hat nicht erkannt, dass wir alle hier Taschen und Turnschuhe in unseren Schränken zu stehen haben. Manchmal hilft es schon, sich klar zu machen, dass man Dinge nicht braucht, um glücklicher zu sein.
Und die Aufgabe? Wie verlebe ich denn nun meine Zeit?
„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir nicht haben, sondern zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“ (Seneca)
Das mit diesem „Nutzen der Zeit“ ist natürlich ein verzwickter Gedanke. Ein Anstoß, mit dem viele Menschen unglücklich werden. Die Frage, ob ich meine Zeit auf dieser Erde nutze, bringt nicht nur Positives hervor. Zum Positiven wird dieser Anstoß vielmehr, wenn ich mir bewusst mache, was ich momentan tue und im Vergleich dazu, wie ich meine Zeit gerne verbringen würde. Einige wenige schaffen es, diesen Gedanken ins Positive zu übertragen und „Mehr“ aus ihrem Leben zu machen. Das Gute zu erkennen um dann in den Feinschliff zu gehen. Wieder andere möchten den Anstoß gar nicht verstehen, der Einfachheit halber.
Wenn ich am Strand von Irgendwo sitzen oder mit meinem Mann durch die Gegend ziehen würde, würde ich nichts anderes machen, als jetzt gerade. Ich würde schreiben. Vermutlich einen Reiseblog oder einen Roman. Die Gerüche wären anders, sicherlich. Die Geschichten hätten einen anderen Klang, mein Essen einen anderen Geschmack. Nichts, was mir meine 20 km nicht geben könnten. Nichts, was ich nicht aus ihnen herausholen könnte, würde ich mich anders einbringen.
Die Reflexionsbücher über das Leben lese ich weiterhin. Zu hinterfragen, ist wichtig. Es darf einen aber nicht unglücklich machen.
All diesen Büchern der „Gastronomien“ am Rande der Welt, den Lektüren darüber, was Sterbende bereuen, ist eines gemein:
Sie beschäftigen sich mit der Aufmerksamkeit dem eigenen Leben gegenüber.
Sie wecken aus dem Halbschlaf auf, in dem sich viele Menschen Zeit ihres Lebens befinden, weil sie sich keine Pause nehmen, um das, was ist, mal zu betrachten. Sie wecken diejenigen aus ihrem Halbschlaf auf, die Krediten, der Eigentumswohnung, der Familienplanung, größeren Autos, also einem gesellschaftlich vorgegebenen Schema F hinterher hasten, weil sie sich selbst nie gefragt haben, wie ihr Leben eigentlich GENAU aussehen soll.
Das ist ein guter Ansatz, um sich dann mit der Frage zu beschäftigen, welche Aufgabe ich mir im Leben eigentlich geben möchte.
Wir müssen nicht alle im Lotto gewinnen, um uns endlich „das eine Leben“ zu erfüllen. Wir müssen nicht unsere Jobs aufgeben, um im Camper durch Vietnam zu reisen. Denn die Aufgaben, die wir bis dahin noch nicht gefunden haben, die nehmen wir mit. Und die 20 km, in denen wir es nicht geschafft haben, uns selbst zu finden, auch diese werden uns begleiten.
In diesem Sinne, seid inspiriert. Seid gut zu euch selbst und den 20 km, in denen ihr lebt.
Love, VIDA.
Check:
Selbstfindungsliteratur ist ein erster wichtiger Schritt, um Inspirationen dafür zu erhalten, wie die Reise zu sich selbst aussehen könnte. Welcher Feinschliff im eigenen Leben nötig ist. Hierbei ist es wichtig daran zu denken, dass es für die meisten Menschen absolut unrealistisch ist, von heute auf morgen alles auf den Kopf zu stellen. Veränderungen brauchen Zeit. Gute Planung. Durchhaltevermögen. Sicherlich ist alles irgendwie realisierbar. Wer weiß, was er will, welche Aufgabe er im Leben hat, der wird den Weg dahin sichtlich genießen.
Achtung, Werbung, Buchempfehlungen:
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- Dienstags bei Morrie, Mitch Albom
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- Selbstbetrachtungen, Marc Aurel