Und was ist Suggestion?
„Fühlt es sich so an? Die Rente?“, frage ich meinen Liebsten und inhaliere den süßen Duft des lilafarbenen Lavendels besonders aufmerksam. So riecht der Mai. Nach Flieder und ersten Sonnenstrahlen. Nach Zitronenkuchen am Muttertag und der ersten Grillwurst, die sich der Nachbar zwei Stockwerke tiefer auf seinem Elektrogrill brutzelt. Wir gönnen es ihm!
„Was meinst du mit der Rente?“, fragt mein Liebster nach.
„Mein Eindruck ist, dass viele Menschen, also wirklich viele Menschen, sich der Rente entgegen sehnen. Sie sagen Dinge wie >Die Einführung der E-Akte, das werde ich wohl nicht mehr erleben, höhöhö< oder >Ich muss hier gar nichts mehr lernen, in drei Jahren bin ich raus, da brauche ich keinen Kurs in XYZ mehr.< Momentan haben wir eine besondere Situation und ich habe mich einfach gefragt, ob sich so der Ruhestand anfühlt.“
Mit SO meine ich die derzeitige Zwangspause aufgrund der Corona-Pandemie. Seit über fünf Wochen ist das normale Leben verändert. Runtergefahren. Stillgelegt. Wir dürfen nach wie vor nicht in unsere Büros. Kontakt mit Kollegen halten wir allenfalls per Email. Aber um ehrlich zu sein, der aktuelle Arbeitsanfall hält sich stark in Grenzen. Auftraggeber und Kooperationspartner sind mit sich selbst beschäftigt. Also tun wir das, was die meisten Menschen (ohne Kinder) gerade tun: wir schlafen länger, als gewöhnlich. Wir frühstücken, räumen auf, stellen die Waschmaschine schon Vormittags an. Wenn das Wetter schön ist, checken wir unsere E-Mails auf dem Balkon. Die Wäsche muss aufgehangen werden. Laufen wir zum Supermarkt? Klar, warum nicht. Etwas Bewegung wird uns gut tun und außerdem haben wir ja mehr als genug Zeit. Wir kochen Nudeln und essen dazu einen knackfrischen Salat mit Spargelspitzen. Wenn es mich überkommt, dann stehe ich sogar etwas länger in der Küche und versuche mich an traditionellen Gerichten, für die sonst Zeit fehlt. Am Nachmittag schlendern wir in die Motzstraße und essen ein Eis. Zufällig läuft uns eine meiner Schwestern in die Arme. Corona-Memories. Was für ein Zufall! Wir haben Zeit, um zu plaudern und in der Sonne zu sitzen. Keiner von uns schaut auf die Uhr und es ist egal, ob wir unsere E-Mails um 19:00 Uhr oder 21:00 Uhr erneut checken.
Es ist ein Gefühl von Leben im Hier und Jetzt. An den guten Tagen ist es Genuss und laissez faire.
An den weniger guten Tagen habe ich das Gefühl, meine Zeit nicht zu nutzen und an nichts im Leben mitzuwirken. Ich gestalte nicht, arbeite nicht an mir, meinen Fähigkeiten oder an den Aufgaben, die ich besonders gut beherrsche. An diesen Tagen überkommt mich das Gefühl, dass KEINE Aufgabe zu haben, außer in den Tag hineinzuleben, wie eine dunkle Wolke ist, die sich von hinten an mich heranschiebt, sich an meinen Rücken haftet und dort den ganzen Tag über hängen bleibt. Die dunkle Wolke und ich versuchen uns dann einzureden, dass das Leben genau so ist: im Moment sein. Genießen. Aber ich kann es mir nicht schönreden, denn ich will beides: laissez faire und eine echte Aufgabe, die mein Leben gestaltet.
„Ich hoffe nicht, dass die Rente so ist. Ich würde schon gerne reisen und aktiver sein“, sagt mein Liebster.
Die Reisefreiheit ist nach wie vor stark eingeschränkt. Tatsächlich wünschen sich viele, die kurz vor dem Ruhestand stehen, ihren Reiseträumen nachgehen zu können. Ich hoffe, sie tun es dann auch.
Vielleicht ist das mit dem „endlich Ruhestand“ auch eine Fremdsuggestion aus Zeiten, in denen in erster Linie körperliche Arbeiten verrichtet wurden. Zeiten, in denen es kein Homeoffice, Sabbatical und ergonomische Schreibtischstühle gab. Der Traum vom Ruhestand – ich versuche ihn nach 5 Wochen Corona-Zwangspause nachzufühlen…
Ich fühle nur Fragezeichen.
Suggestion bezeichnet die (manipulative) Beeinflussung eines Menschen. Die Psychologie konkretisiert dies und versteht hierunter eine Beeinflussung von Denken, Fühlen und Handeln.
Kollegen, Vorgesetzte, Familie und Freunde. Über Jahrzehnte hält sich der Slogan „Endlich Ruhestand.“ Damit meine ich nicht, dass der Ruhestand nicht verdient sei. Natürlich hat sich jeder seinen Ruhestand verdient. Ich persönlich mutmaße jedoch, dass der Ruhestand schlicht überbewertet ist. Wenn ich mein Leben im Hier und Jetzt mit Aufgaben erfülle, die sich nicht wie eine Last, sondern wie Hobby und Freude anfühlen, dann lebe ich doch jeden Tag nach meiner Facon. Und Rahmenbedingungen hält doch jede Lebensphase bereit, ob nun Ruhestand oder Elternzeit oder Arbeitsleben.
Was tue ich mit meiner Zeit?
Absitzen oder sinnvoll nutzen? Genießen und trotzdem etwas bewegen?
Vielleicht ist genau das der Weg durch die goldene Mitte: genießen, bewundern und trotzdem gestalten.
Ich wünsche jedem Corona-Geplagten, allen im Ruhestand, in Elternzeit oder im Sabbatical, dass sie genau das finden, wonach sie selbst wirklich suchen. Dass sie Fremd-Suggestionen von ihren eigenen Wünschen und Gefühlen trennen können und sich ein eigenes Bild davon machen können, was es bedeutet, wirklich viel Zeit zu haben.
Was tut ihr mit eurer Zeit? Genießen oder gestalten?
Ich freue mich über alle Kommentare.
Love, V I D A