
Grenzen setzen. Ein unangenehmes Wort? Ein hartes Wort, das erst einmal ein skeptisches Stirnrunzeln erzeugt? Vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen? Warum es so wichtig ist, Grenzen zu haben und auch zu kommunizieren, das lest ihr hier.
„Ich brauche keine Menschen in meinem Leben, die eine Entschuldigung von mir erwarten, nur weil ich negativ auf deren schlechtes Verhalten mir gegenüber reagiert habe.“
Ein Zitat, gelesen auf Instagram. Von wem es ursprünglich stammt, kann ich nicht sagen. Geteilt, wieder geteilt, gerepostet und umgeschrieben. Als ich die Zeilen das erste mal las, viel mir eine schwere Last von den Schultern. Es war, als würde dieses Zitat Fragezeichen in meinem Kopf löschen, mir ein Licht vor Augen halten und mich tief durchatmen lassen. Ich wollte dem Autor oder der Autorin Danke sagen! Danke für diese klaren Worte. Denn zu oft verleugnen wir uns und unsere eigenen Grenzen selbst; aus Scham, einem falschen Toleranzverständnis oder aus Furcht vor Gegenwehr.
Selbstfürsorge vs. Toleranz
Kennst du das Gefühl, dass du etwas mitmachst oder zumindest „nicht ansprichst“, weil du meinst, es sei den Konflikt nicht wert? Oder du fängst an, deinen Standpunkt klarzumachen, stößt dann aber auf Widerstand und lässt es doch lieber bleiben weil …. es doch nicht so wichtig ist, die Harmonie auf der Arbeit im Vordergrund stehen sollte, dein Vater schon etwas älter ist, wer weiß, wann ihr euch das nächste mal seht?
Und mit dem Durchwinken der Situation spürst du gleichzeitig, dass ein kleines Gewicht mehr deine Schultern belastet?
Das liegt daran, dass du das Wohlergehen des anderen über dein eigenes gestellt hast. Das kann – je nach Situation und Thema – durchaus o.k. sein. Nicht jedes Thema muss durchgekaut werden, nicht jede anderslautende Meinung vertreten werden. Man kann auch mal die Klappe halten und aushalten. Ja, das kann man so sehen.
Man kann jedoch auch versuchen darauf zu achten, um welches Thema es geht. Ist es eine Belastung, die immer größer wird? Eine Grenze, die überschritten wurde? Eine Verletzung, die du durch das Verhalten des anderen erlitten hast?
Wenn wir nicht lernen, uns selbst zu vertreten und unsere eigenen Grenzen zu kommunizieren und zu schützen, verleugnen wir uns selbst. Das kann auf Dauer zu seelischen Beeinträchtigungen, zu Sorgen, Belastungen, gar zu Krankheiten führen.
Werden Grenzüberschreitungen stets hingenommen, beschränken wir unser Recht auf unser eigenes Wohlergehen. Und gleichzeitig gewähren wir der anderen Person mehr Macht, als uns selbst.
Und was ist mit der Toleranz?
Ständige Grenzüberschreitungen hinzunehmen, sollte nicht mit Toleranz oder Harmoniefähigkeit verwechselt werden. Wie bereits erwähnt, abzuwägen ist gut – man muss nicht immer sofort lospoltern. Unser Herz und unser Körper verraten uns, ob und wann eine Grenzüberschreitung gekontert werden muss oder bei welchen Themen das Setzen von Grenzen angezeigt ist. Schlägt das Herz schneller, schnürt die Kehle sich zu, spüren wir einen Knoten in unserer Mitte, sind das eindeutige Zeichen dafür, dass wir für unsere Selbstfürsorge einstehen sollten, anstatt uns hinter einem schlechten Gewissen, wir könnten der anderen Person mit der Grenzziehung nahe treten, zu verstecken.
Keine falsche Scham – kein schlechtes Gewissen
Dabei klingt dieses „Grenzen setzen“ auch viel schroffer, als es sein muss. Oft bekommen wir schon bevor wir unsere eigenen Wünsche kommunizieren, ein schlechtes Gewissen. Die eigenen Grenzen aufzuzeigen kann jedoch auch elegant, klar und freundlich erfolgen. Nehmen wir folgendes Beispiel:
Das Thema Impfungen und Corona ist in unserem Leben täglicher Gesprächsstoff. Die Medien berichten ohne Unterbrechung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Familien und Nachbarn tauschen sich über dieses und jenes aus, manch ein Gespräch wird hitzig, andere wiederum bleiben oberflächlich auf kurze Statements im Fahrstuhl beschränkt. Eine gute Freundin von mir fühlt sich jedoch seit geraumer Zeit immer unwohler mit dem Thema, insbesondere was diesen Gesprächsstoff auf der Arbeit anbelangt. Meine gute Freundin ist Mitte Dreißig, arbeitet in einem Internetunternehmen und versucht seit zwei Jahren, schwanger zu werden. Sie möchte sich gerne impfen lassen, ist jedoch hinsichtlich ihrer Babyplanung verunsichert, wann hierfür der richtige Zeitpunkt ist, denn theoretisch könnte sie jederzeit schwanger werden.
„Ich habe das Gefühl, die Luft auf der Arbeit wird immer dünner. Jetzt wird betriebliches Impfen angeboten, ich habe ständig das Gefühl, Rede und Antwort stehen zu müssen und ich möchte niemandem sagen, dass ich gerade in der Babyplanung bin und einfach verunsichert bin…“, schildert sie mir ihre Situation. Wir sitzen bei einem Crepes zusammen am Potsdamer Platz und genießen den Spätsommer.
„Du musst doch mit niemandem darüber reden, was meinst du?“
„Bei uns wird dieses Thema Impfungen derart selbstverständlich gehandhabt, als ginge es dabei nicht auch um ein Thema der eigenen Gesundheit. Letztens traf ich einen Kollegen, mit dem ich nicht einmal direkt zusammenarbeite, am Fahrstuhl und er fragt direkt heraus: „Und, schon geimpft?“ Und auch mein Chef hat letzte Woche ganz beiläufig wissen wollen, ob ich meinen Impftermin schon habe. Ich weiß, dass für ganz viele Menschen derzeit nichts Indiskretes hinter diesem Thema steht, für mich ist es das aber doch.“
Ähnlich Indiskretes findet sich häufig auch in Hinblick auf Fragen zur eigenen Familienplanung. Wie oft habe ich es persönlich schon erlebt, dass entfernte Verwandte wissen wollten, wann es denn nun endlich so weit sei. Auch der Spruch, jetzt müsse man sich ja rannhalten, ist in diesem Zusammenhang sehr beliebt.
Für mich persönlich hat es sich bewährt, in solchen Situationen eine klare Grenze zu setzen. Das kann der Satz sein:
„Das ist Privatsache.“ Oder „Die Frage ist für mich indiskret. Darauf möchte ich nicht antworten.“
Aber auch dem Kollegen, der jeden Tag Mittagessen gehen möchte, kann man klar antworten: „Heute passt es nicht, aber danke für die Nachfrage.“
Egal, um was es geht: den Kummer und die Last, die wir zu tragen haben, weil wir auf andere Rücksicht nehmen und uns selbst dabei verleugnen, kann ungeheuerlich bedrückend werden.
- Was ist dir wichtig?
- Warum hat dich welches Verhalten verletzt?
- Was muss sich an der Situation / Verhalten ändern, um die Beziehung oder das Miteinander für dich angenehmer zu gestalten?
- Kommuniziere deinem Gegenüber, was dich stört oder bedrückt und was du in Zukunft ändern wirst, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen.
Und auch umgekehrt ist es nur fair, Grenzen von seinem Gegenüber aufgezeigt zu bekommen.
Ich für meinen Teil wünsche mir sogar ausdrücklich, dass meine Familie, Freunde, Arbeitskollegen etc. auf mich zukommen und mir mitteilen, sollte ich einmal eine ihrer Grenzen überschritten haben.
Warum? Weil der Turm sonst irgendwann in sich zusammenstürzt. Werden Grenzen nicht an- oder ausgesprochen, fällt uns das irgendwann im menschlichen Zusammenleben auf die Füße. Oft ist es dann zu spät und schade um das, was unter dem Turm der nicht kommunizierten Grenzen begraben wurde.
Widerstand einplanen
Eines ist aber auch klar: wer Grenzen setzt, wird auf Widerstand, Unverständnis, vielleicht sogar auf Wut und Enttäuschung stoßen. Denn derjenige, dem die Grenze aufgezeigt wude, wird sich ersteinmal in seinem Ego verletzt fühlen und je nach Charaktertyp, dagegen angehen. An diesem Punkt ist es wichtig, die eigenen Grenzen nicht gleich wieder einzureißen, nur weil es kniffelig wird.
Selbstbewusst auftreten, sich nicht verstecken, höflich und klar die eigenen roten Linien aufzeigen, sich selbst im Spiegel in die Augen schauen können. All dies ist wichtig, um mit einem gesunden Selbstwertgefühl durch das Leben gehen zu können. So retten wir Beziehungen, die uns wichtig sind. So zeigen wir den Menschen, wer wir sind und was mit uns geht, und was eben nicht geht.
Übrigens: eigene Grenzen zu setzen bedeutet nicht, rücksichtslos zu walten und zu schalten, wie es einem gerade passt. Rücksichtslosigkeit nicht mit Rückgrat verwechseln!
Es ist kein Diskussionsthema!
Und: bei dem Aufzeigen der eigenen Grenzen wird kein Diskussionsforum eröffnet! Die eigenen Grenzen zu kommunizieren kann und sollte monologartig erfolgen – dein Gegenüber hat deinen Standpunkt lediglich zu hören – er sollte nicht ausdiskutiert werden. Denn deine Grenzen sind deine Grenzen. Und die stehen nicht zur Diskussion. Basta.
Die Kunst ist es, respektvoll beim eigenen Standpunkt zu bleiben. Dafür ist Voraussetzung, dass man seine eigenen Grenzen kommuniziert hat. Es geht auch nicht darum, zwingend einen gemeinsamen Nenner zu finden. Es geht um das gegenseitige Respektieren von Grenzen, Standpunkten und Persönlichkeiten. Die Personen, die selber Rückgrat haben und denen man wichtig ist, werden die Grenzen respektieren.
Schämt euch nicht für eure Grenzen. Sie sind Teil eurer Persönlichkeit.
Love, V I D A
P.S.: in dem nächsten Blogartikel geht es um die Frage, ob Konflikte wirklich immer eines klärenden Gesprächs bedürfen oder ob es nicht auch vertretbar ist, einfach mal „Schwamm drüber“ zu sagen. Stay tuned.